Bergrettung am Cottbuser Höhenweg
Überall, wo Seilbahnen oder gut ausgebaute Wege (hoch-)alpine Gebiete erschließen, wird es wohl immer wieder auch heikle Situation geben, in denen Urlauber vor sich selbst geschützt werden müssen. Nicht zuletzt deshalb werden dort Wege immer öfter ummarkiert und in ihrer Schwierigkeit höher bewertet. Oder wird lieber ein Schild extra aufgestellt, das vor den Gefahren warnen soll. Denn dort, wo mit dem Wanderboom vermehrt Menschen aufbrechen, um schöne Momente in der Natur zu erleben, weiß der eine oder andere eben nicht, dass ein schwarz markierter Höhenweg kein einfacher Panoramaweg für den Nachmittagsspaziergang ist:
In der Ferne sehen wir auf einem Geröllfeld fünf Wanderer, die sich ihren Weg uns entgegen suchen. Und scheinbar suchen sie noch etwas anderes. Vielleicht besonders schöne Steine?, denke ich mir noch.
Je näher wir kommen, desto klarer wird: Die Wanderer haben keinen Spaß, sondern ein Problem. – Belgische Eltern mit drei Kindern im Alter zwischen zehn und 16 etwa, wie sich später herausstellt. Die Mutter kommt gemeinsam mit dem Sohn, dem Jüngsten im Bunde, ganz gut zurecht. Für den Vater und die beiden Töchter aber ist es eine riesige Herausforderung, das Geröllfeld zu durchqueren und deshalb sind sie schon auf allen Vieren. Wie wir merken, ist das Geröll, das sich über den Weg ergossen hat, noch recht frisch und nicht gesetzt, so dass hier und da noch ein Stein in Bewegung ist.
Als wir sie erreichen, sind die drei im Geröll bereits einigermaßen aufgelöst, die Älteste sucht ihr Heil in der Flucht nach oben. Geschwind lasse ich mir von meinen Begleiterinnen die Stöcke geben. Frage nach dem Namen des Mädchens, beruhige sie so gut es geht. Erkläre ihr stehenzubleiben, ich würde hinaufkommen und ihr wieder runter auf den Weg helfen. Der Vater entspannt in diesem Augenblick sichtlich und setzt sich erst mal ins Geröllfeld. Seine andere Tochter lässt sich dicht neben ihn plumpsen.
Während ich mich die paar Meter zur weinenden Annika aufmache, reden meine beiden Begleiterinnen dem Vater zu, auch noch die letzten Meter aus dem Geröll in Angriff zu nehmen. Annika beruhigt und ihr kurz erklärt, wie ihr ein Stock hilft beim Abstützen. Sodann im gemächlichen Zick-Zack die paar Meter zurück zum Weg. Wieder beieinander: Die Familie in freudiger Umarmung, Schluchzen und Tränen der Erleichterung. Ihr kleiner Rucksack leer, kein Proviant mehr, nur noch eine Flasche Wasser. Unsere Schokolade nehmen sie dankend an.
Wir fragen uns, was die Familie, allesamt mit einfachen Turnschuhen an den Füßen und dünnen Hochsommer-Sachen gekleidet, an diesem sonnigen aber späten Juli-Nachmittag hier eigentlich treibt: Sie seien den Weg vom Tal heraufgewandert (am nächsten Tag wissen wir aus eigener Erfahrung, dass schon der sich reichlich zieht) und wollten nun über den Cottbuser Höhenweg zur Seilbahn an der Riffelseehütte.
Für uns ganz klar ein No-Go, denn durch die Schlucht, die sie queren müssten, schaffen sie es in ihrer Verfassung nie und nimmer. Wir appellieren an die Vernunft, gemeinsam mit uns noch mal durch die Geröllfelder zu gehen, den Abstieg ins Tal zu machen. Aber der Mutter ist klar: Da bekommt sie ihre Familie selbst mit zehn Pferden nicht noch mal durch.
Sie wollen weiterhin gen Riffelseehütte, wir versuchen sie davon abzuhalten. Einzige Idee, die wir noch haben: Ein paar Minuten hinter uns gab es einen Notabstieg. Auch nicht unbedingt ein Sonntagsspaziergang, aber unter diesen Umständen wohl die sicherste Variante.
Mit Engelszungen reden wir auf sie ein, doch noch mit uns mitzukommen. Dann das Versprechen: Sie steigen über den Notabstieg hinunter. Wir lassen sie ziehen. Nicht, ohne einen Mann, der uns kurz darauf entgegenkommt zu bitten, noch mal ein Auge auf die Familie zu werfen.
Wir laufen eine Stunde weiter, immer wieder den Blick sorgenvoll zurück gewandt. In der Ferne scheint die Familie am Abzweig zum Notabstieg zu sitzen. Es ist nicht klar, warum sie sich nicht bewegen, aber wenigstens sind sie nicht gen Riffelseehütte unterwegs. Kurz darauf – auch zu unserer Erleichterung – hören wir, wie die Rotorblätter eines Helikopters die Luft zerschneiden. Er landet bei der Familie.
Es ist mitunter schwierig, das richtige am Berg zu tun. Wie weit mischt man sich in die Geschicke anderer ein? Intuitiv haben wir, denke ich, das unter den Umständen Beste getan. Und trotzdem immer wieder der Gedanke: Hätten wir sie nicht doch noch überzeugen müssen, mit uns mitzukommen? Vielleicht einfach mit auf die Hütte zu steigen und dort bis zum nächsten Morgen Kraft zu sammeln? Erste-Hilfe-Kurse kann man buchen, aber kann man auch das richtige Verhalten für solch einen Fall irgendwo im Seminar lernen? „Mit guter Rhetorik am Berg überzeugen“ – Das wär’s wahrscheinlich! Dann wäre der Sonder-Air-Shuttle sicher nicht nötig gewesen.
Danke an den Unbekannten, der es wohl war, den Helikopter zu rufen. Und danke an die Bergretter im Pitztal.
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