Oder: Nach dem Abbruch
Eine Woche früher als erwartet sitze ich wieder an meinem Schreibtisch. Sortiere Rechnungen, führe Telefonate, denke mich wieder in meine Projekte ein.
Ich ertappe mich dabei, dass ich aufatme, wenn die strahlende Septembersonne gerade mal wieder hinter dicken, grauen Regenwolken verschwindet. Denn das Wetter ist der Grund, dass ich überhaupt schon wieder in München bin. Schnee ist der Grund, dass wir unsere eineinhalbwöchige Tour, eine Alpenüberquerung von Berchtesgaden nach Lienz, abgebrochen haben. Ich zünde eine Kerze an und suhle mich mental in dem Schmuddelherbst-Gefühl. Es ist Melancholie, die mich erfasst hat. Wehmut. Weltschmerz. Bergschmerz.
Eine so starke Reaktion hatte ich nicht erwartet. Sie ist völlig übertrieben, sagt mir der Verstand einerseits. Und doch muss ich mir mantra-mäßig immer wieder klar machen, dass wir uns richtig entschieden haben, die Tour abzubrechen.
Das Wetter kam mit Ansage: Zwar blieb der Schnee erst einmal weiter im Westen hängen und erlaubte uns, zunächst flinken Fußes und später sogar mit guter Sicht über das Steinerne Meer zu gelangen. Doch in den Salzburger Schieferalpen, diesen abgerundeten, grünen, sanft daherkommenden Bergen, holt uns zwei Tage später alles ein. Die Schneefallgrenze plötzlich irgendwo bei 1.800 Metern; die Flocken teils horizontal an uns vorbeitreibend, was unsere Ankunft im Statzerhaus ein ganz klein wenig einer Winter-Expedition ähneln lässt.
Das nächtliche Pfeifen des Windes, der an der genau auf der Gipfelkuppe stehenden Hütte rüttelt, bedeutet uns schon, wie es am nächsten Morgen aussehen würde. – Als ich direkt nach Sonnenaufgang vor die Hütte trete, ist alles zum Heulen schön: Unten im Tal eine dicke Hochnebeldecke. Darüber herausstrahlend, auf der anderen Seite des Tales, der Alpenhauptkamm. Weiß. Wunderbar weiß.
Zu weiß für unser Empfinden. Nach einem Tal-Intermezzo würden wir uns in den nächsten Tagen über längere Strecken auf zweieinhalb bis knapp dreitausend Metern bewegen. Erst am Großglockner vorbei, dann in die Schobergruppe hinein. Wenn dann wirklich noch weiterer Schnee käme, würde das kein Zuckerschlecken. Dabei hatte ich mich gerade auf diese Berge südlich des Glockners schon so lange so sehr gefreut. Doch klar war: Wir wollten die Berge genießen, nicht mit ihnen kämpfen.
Den endgültigen Ausschlag gibt ein kurzes Telefonat mit dem Wirt von einer Hütte ein paar Tage weiter: Ich erfahre die Schneehöhen dort und verliere die letzte Illusion. Wir entscheiden auf Abbruch.
Später im Tal, bei 20 Grad, scheint diese Entscheidung schon wieder vollkommen überzogen.
Das ist jetzt gut 48 Stunden her. Wie ich mich kenne, werde ich wohl nun am Wochenende noch das eine oder andere Mal die Glockner-Webcams öffnen. Fast leidvoll, wenn wieder mehr Schnee geschmolzen ist. Und fast erleichtert, wenn wieder eine neue Schneeschicht draufgeladen ist. Ich werde wohl immer wieder mal an T. und L. denken – das Pärchen, das wir auf dem Statzerhaus kennengelernt haben. Die weiterwollten Richtung Lienz und hoffentlich gut weiterkommen.
Und: Ich werde mich dieses Wochenende wohl einfach zu Hause einkuscheln. Mit einem guten Buch. Ich werde das Schmuddelwetter genießen. Und den Bergschmerz überstehen.