Ein Herbstwochenende in Hall
Gerade erst ein paar Meter sind wir unterwegs, als ich eine erste Frage an meine einheimische Begleiterin loswerden muss: Was es denn mit diesen Eisenstäben auf sich hat, die an vielen der Hausfassaden in der Altstadt von Hall zu sehen sind. Wie überdimensionierte, eingeputzte Flügelschrauben wirken sie auch mich. „Das sind Erdbebenklammern“ erklärt mir Janine Heissl. Sie ist Stadtführerin und zeigt mir an diesem Herbstwochenende ihre Heimatstadt.
Die Erdbebenklammern – fachsprachlich heißen sie „Maueranker“, erfahre ich, kamen in Gebrauch, nachdem Hall im Jahre 1670 durch ein Erdbeben stark in Mitleidenschaft gezogen wurde. Dieses Erdbeben war eines der historisch überhaupt stärksten Erdbeben in Tirol.
Auf eine weitere bauliche Besonderheit macht mich meine Tiroler Begleiterin aufmerksam: Viele der alten Häuser sind mit zusätzlichen Stützmauern verstärkt. Sie sind aus Höttinger Brekzie gearbeitet, einem porösen Stein, der vom Mittelalter bis ins 20. Jahrhundert in Steinbrüchen nördlich von Innsbruck abgebaut wurde. Er ist graubraun bis rötlich, in Hall und in Innsbruck überall zu entdecken – aber auch schnell zu übersehen.
Wie große, aufgerichtete Steinkeile stehen die Brekzie-Mauern wuchtig und trotzig vor den mittelalterlichen Hauswänden – ebenfalls zur Stabilisierung. Nicht ohne Grund: Tirol ist eine der erdbeben-gefährdetsten Regionen innerhalb Österreichs. Etwa 14 Mal im Jahr rüttelt und schiebt es auch heute noch an den Alpen dermaßen stark, dass die Beben von den Tirolern gefühlt werden.
Beim Bummel durch Hall fällt auf, dass die Stützmauern die krummen und schiefen Hausfassaden einmal mehr betonen. Dazu kleine und zumeist verkehrsberuhigte Pflastergassen. Und fertig ist Tirols größte Altstadt:
Das historische Zentrum von Hall ist größer als das von Innsbruck. Denn über lange Zeit war Hall eine der bedeutendsten Städte von Tirol. Mitte des 13. Jahrhunderts wurde das Schloss zur größten Burganlage im Inntal ausgebaut, der Burg Hasegg. 1303 verlieh Herzog Otto das Stadtrecht an Hall. Der Salzabbau und 1477 die Verlegung der landesfürstlichen Münzstätte von Meran nach Hall taten ihr übriges zum wirtschaftlichen Aufschwung der Stadt.
Hall einst
Um die Stadtgeschichte zu verstehen, ist es fast unausweichlich, in der Münze Hall vorbeizuschauen, denn dort wurde die (Geld-)Geschichte entscheidend geprägt: Bis 1486 war das Prägen von Münzen direkt an den Besitz des teuren Goldes gebunden. In Hall nahm man das erste Mal Silber, das im benachbarten Schwaz abgebaut wurde, und prägte den Haller Guldiner. Diese hochwertige Silbermünze war auch Namensgeber für den Dollar und Vorreiter des Euro.
Lange war das Prägen von Münzen reine Handarbeit. Mit der Entwicklung des Handels stieg auch der Bedarf an Geld und es war immer schwieriger, diesen Bedarf zu bedienen. 1567 dann ein zweiten umwälzendes Ereignis: In Hall kam erstmals eine maschinelle Walzenprägung zum Einsatz. Von der Bedeutung her war sie, wenn man so will, das Pendant zu Gutenbergs Buchdruck mit beweglichen Lettern. Die Haller Münzstätte war damit lange die bedeutendste Prägestätte Europas. Außerdem verbreitete sich das „Haller Münzdruckwerk“ in den nächsten Jahren schnell auf dem ganzen Kontinent und wurde erst im 18. Jahrhundert durch modernere, effizientere Maschinen ersetzt.
In den Museumsräumen, in denen die alten Prägemaschinen stehen, ist das Fotografieren leider nicht gestattet. Stattdessen kann man am Ende des Rundgangs selbst eine Spindelpresse in Gang setzen und eine Münze prägen.
Hall heute
Der Wohlstand, der vom Salzabbau und von der Münze ausgegangen ist, lässt sich bei einem Spaziergang durch Hall noch heute erspüren. Stolz wirkt das Städtchen, hinter dessen Dächern überall Berggipfel hervorspitzen. Und allein schon die alten Eingangstüren scheinen eine weitere Runde durch die Altstadtgassen zu rechtfertigen.
Am Samstagvormittag schlendere ich daher abermals durch Hall. Auf dem Oberen Stadtplatz findet der wöchentliche Haller Wochenmarkt statt; direkt daneben haben weitere Händler ihre liebevoll dekorierten Stände des Haller Koffermarkt aufgebaut, der im Herbst 2017 zum zweiten Mal stattfand.
Hall, das mich schon zwei Jahre zuvor, während der Alpenüberquerung von München nach Venedig, begeistert hat, spielt an diesem Herbstwochende einmal mehr seinen Charme aus. Prompt fällt nach dem Wochenende die Entscheidung, wenige Wochen später gleich noch mal hierher zu kommen. Mit Gästen.
Tipps
Übernachten: Wenn du historischen Häusern mit krummen, gekalkten Wänden und knarrenden Holztüren etwas abgewinnen kannst, dann schau in das Hotel Goldener Engl am Unteren Stadtplatz. In dem 700 Jahre alten Herrenhaus gibt es neben gemütlichen, individuell eingerichteten Zimmern zwei besonders schöne Turm-Suiten. Zum Haus gehören drei historische Stuben – die Engl-Stube, in der das Frühstück gereicht wird sowie die holzgetäfelte Stifterstube und Poschstube. Außerdem, im Gewölbekeller des Hauses, das Augustiner-Bräu.
Essen: Das traditionsreichste Haus am Platz ist das Gasthaus „Goldener Löwe“. Für einen schnellen Espresso genauso wie eine ausgiebige italienische Menüfolge empfiehlt sich „Ristorante Bar Centrale“. Um abends auf ein Glas Wein und eine Kleinigkeit bist du im Marcellos sehr gut aufgehoben. Oder einfach selbst weiter durch die Gassen schauen und das eine oder andere Lokal finden.
Einkaufen: In der Altstadt gibt es keine Unternehmens-Ketten. Auch das trägt zum besonders charmanten Charakter von Hall bei. Statt dessen zahlreiche kleine Läden mit sehr individuellen Angeboten. – Einfach treiben lassen!
Drumherum: Oberhalb von Hall mal zur Walderalm schauen, eine ziemlich geniale Aussichtsloge. Vorsicht: Sehr gerne sehr voll. Außerdem ein Tipp für Pferdenarren: Vor den Toren von Hall, in Mills, findet seit einigen Jahren der Pferdeherbst statt, bei dem wunderschöne Pferde und tolle historische Gespanne zu sehen sind.
Hin und weg: Sehr gut angebunden mit der Bahn. Zum Beispiel ab München mit ein Mal umsteigen in gut zwei Stunden erreichbar. Wenige Gehminuten vom Bahnhof zur Altstadt.
Transparenzhinweis: Ein erstes Mal ausgiebig habe ich mich auf Einladung vom Tourismusverband Region Hall-Wattens in Hall umgesehen, der mit zwei Übernachtungen sowie der Stadt- und Museumsführung die Recherche unterstützte. Bald darauf kam ich privat zurück.