Was Alice Munro & Gerlinde Kaltenbrunner gemein haben
Sie schreibt in solch existenzieller Dichte und Komplexität, dass ein Kritiker meint, es sei kaum zu verkraften, mehr als eine Erzählung pro Tag von ihr zu lesen.“
Ja, genau das war es, was ich fühlte! Unwillkürlich dachte ich an Gerlinde Kaltenbrunner, deren Buch Ganz bei mir ich einige Monate zuvor unbeendet zur Seite gelegt hatte. Die Beschreibung ihrer Leidenschaft für die Achttausender konnte ich nur mäßig verkraften: War sie nach einer ihrer Expeditionen heil im Basecamp angekommen und konnte ausgiebig ruhen, musste auch ich bis zum nächsten Abend wieder neue Kräfte zum Weiterlesen sammeln.
Die Dimensionen eines Schattens …
Die eingangs erwähnten Worte waren Alice Munro, der Literatur-Nobelpreisträgerin von 2013, gewidmet. Die ZEIT veröffentlichte ihre Kurzgeschichte Dimensions of a Shadow im Dezember erstmals auf Deutsch: Bereits diese erste Kurzgeschichte, die sie 1950 im Alter von 18 Jahren schrieb, umreißt mit nur wenigen Worten die komplette Seelenlandschaft einer vorzeitig gealterten Lehrerin.
… und die Dimension eines Achttausenders
Gerlinde Kaltenbrunner schreibt – auf ganz andere Art als die Nobelpreisträgerin – ebenfalls dicht und komplex: 1994 steht sie das erste Mal auf einem Achttausender. Siebzehn Jahre später, im Sommer 2011, erreicht sie den K2 und erfüllt sich damit ihren großen Traum. Sie ist die erste Frau, die alle 14 Achttausender ohne künstlich mitgeführten Sauerstoff bestiegen hat.
Was es bedeutet, „mit fairen Mitteln“, also außer ohne zusätzlichen Sauerstoff auch ohne Lastenträger zu den ganz großen Gipfeln zu gelangen, wird einem spätestens dann klar, wenn man sich ein Bild von einem 20 Kilogramm schweren Rucksack macht. Manch einer würde den in der Ebene nicht schultern, Gerlinde Kaltenbrunner bewegt sich damit in dünnster Luft.
Ganz bei mir beschreibt eindringlich, wie eng Freud und Leid beim Bergsteigen auf den höchsten Gipfeln der Welt beieinander liegen. Es vergeht kaum eine Tour ohne Verluste oder Rückschläge. Über ihre eigene Gefühlswelt in solchen Momenten verliert sie oft weniger Worte als manch Leser erwarten würde. Doch auch ohne das Innerste nach außen gekehrt zu haben, sind ihre Erzählungen mitunter kaum zu verkraften.
Mit dem Gefühl großer Hochachtung für die Österreicherin schließe ich das Buch, als ich es Monate später zu Ende gelesen habe. Chapeau! – Die erfolgreiche Besteigung von Broad Peak, Makalu, Lhotse & Co allein sind dafür schon Grund genug. Doch mindestens ebenso spannend sind die Passagen, in denen sie ihre aufkeimende Berg-Neugier als Kind und Jugendliche beschreibt: Klettertouren mit dem Pfarrer, Kältetraining bei geöffnetem Schlafzimmerfenster. Unverkennbar: Es gehört ein besonderer Wille dazu, das, was einen erfüllt, derart konsequent zu verfolgen. – Berggeschichten und Einblicke der besonderen Art.
Wie authentisch ihr Buch geschrieben ist, lässt sich spätestens dann erahnen, wenn man Gerlinde Kaltenbrunner live bei einem ihrer Vorträge erlebt.