Eine Obergurgler Wanderung
Manche Geschichten wollen am besten von hinten aufgerollt werden. Von dem Moment aus zum Beispiel, als man nach launigen, lausigen 24 Stunden am Berg im Liegestuhl die wärmende Sonne aufsaugt, an einem Getränk nippt und die Landschaft auf sich wirken lässt.
Denn die Kulisse vor – oder hinter, wie man‘s nimmt – der Schönwieshütte wirkt! Wie sie wirklich wirkt, wird mir erst viel später bewusst, als ich nochmals das Bild anschaue, das ich ins Rotmoostal hinein gemacht hatte. Unten fließt die Rotmoosache, weit ragen die teils vergletscherten Bergflanken um das Tal herum herauf und fast könnte man meinen, sich in die Weiten des Himalaja, mindestens aber des Kaukasus verirrt zu haben.
In den vorherigen Stunden waren wir vom Ramolhaus abgestiegen, durch dieses alles-verschluckende Grau, von dem sich nie ganz klar sagen lässt, ob es sich noch um Nebel oder schon um Wolken handelt. Nur morgens, oben am Ramolhaus, auf knapp über 3.000 Metern, hatte sich dieses Grau gutwillig gezeigt, riss hier und da auf und ließ uns einen Blick auf den Gurgler Ferner erhaschen, auf den kläglichen Rest eines vermeintlich ewigen Riesen.
Die Piccardbrücke
Wie weit auch der Gurgler Ferner tatsächlich zusammengeschrumpft ist, wird so richtig deutlich, nachdem wir später über ausgedehnte Gletscherschliffplatten laufen; an steilen, seilversicherten Wänden einen vorsichtigen Schritt nach dem anderen schnell an Höhe verlieren und bald recht unvermittelt eine Hängebrücke erreichen. Die Brücke spannt sich seit 2016 einigermaßen kühn über die Schlucht der Gurgler Ache und soll dauerhaft den sicheren Übergang von der einen auf die andere Talseite gewähren: 138 Meter lang, 72 Meter über den hintersten Gurglertalboden. Und heute … scheinbar ins Nichts führend.
An dieser Brücke, die nach dem Schweizer Stratosphärenforscher Auguste Piccard benannt ist, zeigt unser Bergführer Vitus mit einer Kopfbewegung nach oben. Bis irgendwo dorthin, weit über uns, reichte noch vor 90 Jahren das Gletschereis. Und dort landete Auguste Piccard am 27. Mai 1931 mit einem Gasballon: Piccard hatte in den Stunden zuvor etwas bewiesen, was bis dahin als undenkbar galt: Gemeinsam mit seinem Assistenten Paul Kipfer war er in die Stratosphäre, auf mehr als 15 Kilometer Höhe, aufgestiegen.
Der Stratosphärenflug
Die beiden waren dazu in Augsburg in einer von einem Gasballon getragenen Aluminiumkapsel gestartet, sie gewannen innerhalb einer halben Stunde ordentlich an Höhe und erreichten binnen kurzem die Stratosphäre. Der weitere Plan, bald wieder zu landen, wurde von einem Missgeschick vereitelt, das sich schon bald nach dem Start abgezeichnet hatte: Ein Halteseil hatte sich mit der Ventilleine verheddert. Da so auch das Ventil, über das Gas hätte abgelassen werden sollen um den Sinkflug einzuleiten, nicht mehr bedient werden konnte, mussten Piccard und Kipfer auf den Lauf des Tages warten: Erst, wenn die Sonne an Kraft verlieren und sich die Luft auch im Ballon abkühlen würde, würden sie allmählich sinken. Bis es soweit war, waren sie längst weit weg vom Lech, über die bayerischen Voralpen und bis direkt an den Alpenhauptkamm, ins Gurglertal getrieben.
Zwei glückliche Umstände trugen zum guten Ausgang der Forschungsunternehmung und nebenbei auch zur baldigen weltweiten Bekanntheit von Obergurgl bei: Piccard und Kipfer notlandeten auf dem Gletscher; ihre Kapsel holperte nur ein kurzes Stück das Eis hinunter, bevor sie liegenblieb und beide wohlbehalten ausstiegen. Damit nicht genug: In Obergurgl wusste der Bauer Martin Grüner zwar nichts von dem Stratosphärenflugversuch, aber er erspähte in der Abenddämmerung oben auf dem Gletscher etwas, das seine Neugier weckte. Zusammen mit zwei weiteren Einheimischen, Hans Falkner und Hugo Gstrein, machte er sich am nächsten Morgen auf den Weg und erreichte gegen elf Uhr Vormittags die Stratosphärenforscher.
Der Rest ist schnell erzählt: Gemeinsam stiegen die fünf zunächst vom Gletscher und dann von den Bergflanken ins Tal. Von der kleinen Poststation im Hotel Edelweiß in Obergurgl war die Nachricht bald nach Augsburg telegrafiert und schon wenige Stunden später kamen Journalisten aus aller Welt in das abgelegene Hochgebirgsdorf, wo ein mehrtägiger Medienrummel begann.
… von allen Seiten kamen telefonische Anfragen und telegraphische Glückwünsche, mit Motorrädern und mit Autos (ein Auto kam sogar von Rom!) jagten die Zeitungs- und Sensationsmänner nach Zwieselstein und stürmten dann zu Fuß, einander überholend, nach Obergurgl. Der Gasthof Edelweiß füllte sich mit Gästen, das Postamt hatte angestrengten Tag- und Nachtdienst. Sogar eine Radiosendung wurde im Edelweiß eingerichtet, damit Prof. Piccard, Dr. Kipfer und Lehrer Falkner sich derselben bedienen konnten. Augen und Ohren der weiten, großen Welt waren nach Gurgl gerichtet! Wie viel Menschen werden etwa nach ein paar Jahrzehnten noch wissen, daß am 27. Mai 1931 Prof. Piccard in Gurgl niedergegangen und gerettet worden ist?! Närrische Welt!“
(aus der Abschrift der Chronik von Gurgl, verfasst vom Gurgler Pfarrer Franz Danler)
Gut zu wissen
Obergurgl liegt im Talschluss des Ötztals. Bzw. am Eingang des Gurglertals, dem größten Seitental des Ötztals. Per Bahn-Bus-Verbindung bis zum Bahnhof Ötztal (der wiederum im Inntal, am Eingang zum Ötztal liegt). Von dort weiter mit dem Bus über Sölden und Zwieselstein. Bus-Fahrtzeit knapp 1,5h.
Unterkunft: Noch immer hat man vom Hotel Edelweiß einen fantastischen Blick ins Gurglertal. Nach einem Zimmer nach Süden fragen.
Hochalpine Wanderung: Wer trittsicher ist, kann eine eindrucksvolle Wanderung rund um das Gurglertal angehen. Von Obergurgl auf der westlichen Talseite hinauf zum Ramolhaus, später von dort zunächst etwa 100 Höhenmeter auf gleichem Weg zurück, dann scharf rechts und teils steil zur Piccardbrücke. Auf der anderen Seite wieder ein paar Höhenmeter gewinnend, bevor es über die Langtalereckhütte und die Schönwieshütte zurück nach Obergurgl geht. 8,5 – 10 Stunden reine Gehzeit. Gemütlich(er) mit Übernachtung auf dem Ramolhaus, an dem man dann auch die 3.000er-Marke überschritten hat.
Mehr nachlesen: Das Verkehrsamt Obergurgl hat vor Längerem eine 16-seitige Dokumentation zur Landung von Auguste Piccard auf dem Gurgler Ferner publiziert; man kann sie in der Tourist-Information kaufen.
Weitere Hintergründe Stratosphärenflug und Ballonfahrt: Nördlich von Augsburg, wo Piccard zu seinem Stratosphärenflug startete, liegt Gersthofen. In dem traditionellen Ballonfahrerstädtchen ist ein Ballonfahrtmuseum eingerichtet, das vom ersten Traum des Menschen zu fliegen über die ersten Ballonfahrten bis hin zum Stratosphärenflug und modernen Forschungen die Geschichte der Ballonfahrt erzählt.
Im Gurglertal war ich auf Einladung von Ötztal Tourismus auf Piccards Spuren unterwegs.