Spanien Über Land

Versteckte Schätze

Totale.

Die romanischen Kirchen im Vall de Boí

Die Kirchen hatten mich ins Vall de Boí gebracht. Nicht die Institutionen, sondern die Gemäuer. Alte, romanische Gemäuer. Neun Stück an der Zahl. Seit fast tausend Jahren ragen ihre Glockentürme und -giebel in den Himmel des kleinen, abgeschiedenen Bergtals in den spanischen Pyrenäen; heute gelten sie als eine der wichtigsten Ansammlungen romanischer Baukunst.

Schaut man vom Tal aus die ringsum hohen, steilen Berge hinauf, verwundert es zunächst, dass gerade hier, weit weg von den großen Machtzentren, einer der romanischen Architektur-Hotspots zu finden ist. Doch gerade die Berge sind, wenn man so will, auch die Erklärung dafür. Aber von vorn. 

Grenze & Bollwerk

In gewisser Weise sind Berge vor allem eines: Ein Hindernis. Im Fall der Pyrenäen ist das nicht sehr viel anders als bei anderen Gebirgen. Die Pyrenäen bilden die natürliche Grenze zwischen Spanien und Frankreich. Gleich am Mittelmeer wellt sich die Landschaft allmählich auf, nimmt zunächst Mittelgebirgscharakter an, bevor man’s schnell mit 2.000ern und bald auch mit 3.000 Meter hohen Bergen zu tun hat. 

In der Antike waren diese Berge mit ihrem unwirtlichen Klima recht uninteressant für die Menschen, auch später galten die Pyrenäen höchstens als eine Hürde, die es zu nehmen galt, bevor auf der anderen Seite die fruchtbaren Ebenen erreicht waren. Erst ab dem Jahr 711, als die Mauren in einem achtjährigen Feldzug große Teile der Iberischen Halbinsel eroberten und islamisierten, flüchteten viele Bewohner in die engen Täler, auch ins Vall de Boí. Die Berge dienten nun als Bollwerk.  

Kriegsbeute & Kirchenbauten

In den nächsten Jahrhunderten machten die Menschen die Talböden urbar und nutzen die Hochflächen als Weideland für ihre Tiere, während kleine Feudalherren von ihren Burgen alles im Blick hatten. Unter Alfons dem Krieger boten dann ab 1101 auch die Freiherren von Erill, die über das Vall de Boí herrschten, den Mauren die Stirn. Heim kamen sie in den nächsten Jahrzehnten mit immer neuen Ländereien und reichlich Kriegsbeute.

Schon einige Zeit zuvor hatte die Pyrenäen ein regelrechter Bauboom erfasst. Grund dafür waren nicht zuletzt die Gebeine des Heiligen Jakobus, die – so die Chroniken, bereits Anfang des 9. Jahrhunderts bei Ausgrabungen in Santiago de Compostela gefunden wurden. Seither war die galizische Stadt im Nordwesten der iberischen Halbinsel für Gläubige aus ganz Europa das Ziel einer Pilgerreise. Und überall am weit verästelten Jakobsweg entstanden Kirchen.  

Sant Feliu de Barruera
Sant Feliu de Barruera

Italienisches Know-how

Das Aussehen der neu gebauten Kirchen prägten in den östlichen Pyrenäen vor allem Architekten aus der Lombardei. Auch die Herren von Erill zeigten sich nun als spendable Geldgeber der Kirche – nicht ganz uneingennützig, denn derart Freigibigkeit sollte allem kriegerischen Gemetzel zum Trotz den direkten Weg in den Himmel zu bahnen.

Sie stellten also lombardische Handwerker ein und ließen unter ihrer Anleitung neue Gotteshäuser bauen. In den nächsten Jahrzehnten entstanden so in allen Dörfer des Vall de Boí geometrisch strenge, von außen schmucklose Bauten aus unbehauenem Stein. Vor allem die hohen, frei stehenden Kirchtürme fallen auf. Und so schlicht die Gemäuer von außen wirkten, so bunt ausgeschmückt mit großflächigen romanischen Malereien waren sie im Inneren.  

Santa Maria de Taüll
Santa Maria de Taüll

Fast vergessen & fast verloren

Die Erills gingen, andere Herrscher kamen. Die einfache Landbevölkerung blieb arm wie eh und je. Die romanischen Provinzkirchen schlummerten vor sich hin, ohne große um- oder überbaut zu werden; viele Jahrhunderte war das Vall de Boí fast vergessen. 

Anfang des 20. Jahrhunderts dann kamen findige Kunstinteressierte und Spekulanten ins Tal und ließen viele der farbenfrohen Fresken abnehmen. Diebstahl, Versteigerung und Verkauf stießen vor allem katalanischen Intellektuellen aus Barcelona auf, schließlich griffen die Behörden ein. Eine Expedition des Intituts für katalanische Studien (Institut d’Estudis Catalans, IEC) gelangte mit Mauleseln über abenteuerliche Gebirgspässe ins Vall de Boí. Die verbliebenen Fresken abzunehmen und andere sakrale Ausschmückungen einzupacken, erschien als das einzige Mittel, die Kulturschätze zu sichern. Heute sind viele dieser Originale daher im Museu National d’Art de Catalunya in Barcelona zu sehen. 

In vielen der Kirchen im Vall de Boí werden seit nunmehr fast tausend Jahren Gottesdienste abgehalten. Und das Tal ist weit davon entfernt vergessen zu werden, spätestens seit neun der Kirchen seit dem Jahr 2000 zum UNESCO-Weltkulturerbe gehören.

Kirchgänge

Ursprünglich hätte ich zumindest einige dieser Kirchen auf einer gut halbtägigen Wanderung erkunden wollen. Aber zum einen hatte ich bei unserer vorherigen einwöchigen Runde durch den Nationalpark Aigüestortes schon genügend Höhenmeter gesammelt; zum anderen war es nun schlagartig hochsommerlich warm geworden. Also besuchten wir die Kirchen mit ganz viel Muße im Laufe der nächsten Tage. Dabei genügend Zeit für alle neun Welterbe-Kirchen zu nehmen und für die kleinen Bergdörfer, in denen sie erbaut wurden, empfand ich als puren Luxus.

Wenn man so will, werden die Kirchen immer spannender, je weiter man ins Tal hineinkommt: da wären zunächst die Kirchen La Assumpció de Cóll und Santa Maria de Cardet, die zumeist verschlossen sind und nur von außen besichtigt werden können. Genauso wie die Einsiedelei Sant Quirc de Durro, von wo man stattdessen einen besonders tollen Blick bis zum Talschluss hat. Auf dem Weg nach Durro und zur dortigen Kirche La Nativitat de Durro fanden wir überall verkohltes Holz – Überreste der Falles, der traditionellen Bergfeuer zur Sommersonnenwende in den Pyrenäen

Strategischer Start in Erill la Vall 

Vor unserer Wanderung im Nationalpark Aigüestortes hatten wir uns in Erill la Vall einquartiert, nach unserer Wanderung übernachteten wir nochmals im dortigen Hostal la Plaza. Aus der Herberge hat man quasi die Pole Position für romanische Talerkundungen, denn schräg gegenüber befindet sich das Centre Romànic, in dem wir uns einen ersten Überblick über die Geschichte des Tals verschaffen. Und vis-à-vis streckt sich der Glockenturm von Santa Eulàlia de Erill la Vall schlank aus dem wuchtigen Steinbau. 

Beim Betreten der Kirche bin ich überrascht, denn hinter den dicken Wänden ist der Innenraum noch viel kleiner als ich es erwartet hatte. Blickfang hier ist eine hölzerne Figurengruppe im Altarraum, die Kreuzabnahme.

Eine niedrige Tür hat meine Aufmerksamkeit erregt – tatsächlich: es geht auf den Kirchturm. Oben angekommen sind wir den Glocken ganz nah. Wir könnten – wenn wir dürften – kräftig an dem dicken Seil ziehen, mit dem die Glocken im Turm vertäut sind. Und so wie in früheren Jahrhunderten Gläubige zur Messe rufen, vor Gefahr warnen oder sonst zu Themen wie Geburten oder Toden mit den anderen Dörfern in Sicht- und Hörweite in Kontakt treten. Stattdessen halten wir uns an die Bitte, hier oben nichts in Gang zu setzen.

Ein Lifan und Graffiti 

Wo möglich, steigen wir auch in den nächsten Tagen auf die Kirchtürme: In der Iglesia de Sant Feliu de Barruera, dem eigentlichen Hauptort des Tals. Oder in der Iglesia de Sant Joan de Boí. Das Dorf Boí war im Mittelalter eine der wichtigsten Siedlungen im Tal und hatte als einzige auch eine Burg. Im Halbdunkel von Sant Joan kann ich erstmals erahnen, wie farbenfroh die Kirchen hier einst gewesen sind; so gar nicht romanisch nüchtern, wie wir für gewöhnlich meist denken. 

Sant Feliu de Barruera
Sant Feliu de Barruera

Zwar sind auch diese Bilder in der Kirche von Boí Repliken, aber das stört mich nicht all zu sehr: Dargestellt sind neben verschiedensten biblischen Geschichten immer wieder auch Tiere und Bestien, die die Künstler entweder tatsächlich aus den Pyrenäen oder nur aus Erzählungen kannten. So sind heimische Greifvögel wie Adler oder Geier genauso abgebildet wie Löwen, Kamelen und Elefanten. Und eine Kuriosität erregt unsere Aufmerksamkeit: in die Mauern links und rechts des großen Kirchportals sind Figuren geritzt – mittelalterliche Graffiti von Kriegern und Pferden, Wächtern und Burgen.   

Sant Joán de Boí
Sant Joán de Boí

Romanisches Meisterwerk

Den Berg hinauf, zwei Kilometer von Boí entfernt, finden sich in Taüll gleich zwei Kirchen: Santa Maria de Taüll, als einzige der Tal-Kirchen mitten im Dorfzentrum gebaut, ist abermals relativ schlicht; meine Augen müssen sich erst an den dunklen Innenraum gewöhnen, bevor ich Details der Wandgemälde und die Ausmalungen in der Apsis ausmachen kann. 

Santa Maria de Taüll

Die andere Kirche im Ort, Sant Climent de Taüll, ist nicht nur für Talverhältnisse besonders groß, besonders gut erhalten und sehr aufwändig wieder hergerichtet. Sie gilt als Meisterwerk der Romanik. Selbst hier sind die meisten heutigen Darstellungen Repliken, doch Restauratoren haben unter geweißten Wänden sehr spät noch Reste von original romanischen Wandgemälden entdeckt.

Es sind die letzten Tage der Vorsaison und während wir bisher im Tal nahezu allein unterwegs waren, treffen wir in Sant Climent nun auf mehrere Reisegruppen. – Wer wenig Zeit hat, nimmt sie sich für dieses Kirchen-Highlight.

Wir setzen uns auf die Kirchenbänke und schon wird es dunkel. In den nächsten Minuten entstehen mit Hilfe einer aufwändigen 3D-Projektion die Ausmalungen der Apsis. Wir erleben, wir die Handwerker und Künstler bei der Bebilderung vorgegangen sind – da werden die Flächen unterteilt und Umrisse gezeichnet, die Hintergrundfarben aufgebracht. Erst werden die großen Hauptfiguren aufgemalt, dann die kleineren Nebenfiguren.  Ergänzt um Ornamente, die die Decke und die Wände immer voller werden lassen, bis uns alles fast blendend entgegenstrahlt. 

Und die Bilder haben ihre Wirkung, hier noch mehr als schon in den Kirchen davor: Nachdem wir eine Woche lang in den frühsommerlichen Hochgebirgslagen unterwegs waren und nur Natur um uns herum hatten, erscheint mir die üppige Ausmalung der romanischen Kirche prunkvoll. Wie atemberaubend müssen die Räume da erst im Mittelalter auf die Bergbewohner gewirkt haben! 

Sant Climent de Taüll
Sant Climent de Taüll

Saraís – das verlassene Dorf  

Und noch eine Kirche besuchen wir. Oder vielmehr das, was davon übrig ist: gut 300 Höhenmeter über der heutigen Talstraße lebten in dem Weiler Saraís einst knapp 30 Personen rund um die Kirche Sant Llorenç. Frischwasser, so erfahren wir, war immer wieder ein Problem, außerdem führte nie mehr als ein Trampelpfad hinauf zum Ort. In den 1970er Jahren waren auch die letzten Bewohner verstorben oder weggezogen. Übrig blieben längst eingestürzte Dachstühle. Steinmauern, die mit der Zeit immer schiefer werden und nach und nach ebenfalls umkippen. Üppiges Sommergrün überrankt das Zerfallen, und nach dem schweißtreibenden Aufstieg scheint es irgendwie passend, würde die Glocke, die einsam im Giebel von Sant Llorenç hängt, das Lied vom Tod einläuten.

Wie seltsam eng Verfall und Erhalt doch mitunter Seite an Seite stehen.

Tipps Vall de Boí

UNESCO-Weltkulturerbe besuchen: Ester Anlaufpunkt – online und vor Ort – ist das Centre del Romànic de la Vall de Boí. Genau wie das Infozentrum ist Sant Climent de Taüll mit seiner 3D-Simulation vormittags und nachmittags geöffnet, unterbrochen von einer längeren Mittagspause. Ansonsten ist ein wenig Planung gefragt: ein Teil der zugänglichen Kirchen ist nur vormittags oder nur nachmittags geöffnet. 

Geht’s auch wandernd?: Aber ja! Auf alten Pfaden und Wegen bietet sich zum Beispiel eine Runde von Erill la Vall nach Barruera an, von dort hinauf nach Durro und zurück nach Boí. Mit einem Abstecher hinauf nach Taüll muss man für die etwa 700 Höhenmeter und 16 Kilometer etwa fünf Stunden einplanen. Inwiefern überall die Zeit für einen Besuch der Kirchen bleibt, hängt von der eigenen Detailplanung ab. 

Unterkunft: Das einfache Hostal La Plaza in Erill la Vall ist sympathisch geführt. In Taüll hat Gastgeberin Antonia im El Xalet de Taüll fünf liebevoll eingerichtete Zimmer. Viel Zeit auch für das hervorragende Frühstück dort einplanen. 

Essen: Außerhalb der Hauptsaison ist die ansonsten recht große Restaurant-Auswahl im Tal etwas eingeschränkt, die Öffnungszeiten sind mitunter vogelwild. Daher gilt, am besten einfach vorbeizugehen und nachzufragen oder sich überraschen zu lassen. In Erill la Vall hat uns das L’Aüt begeistert, in Barruera das L’Era

Equipment und sonstige Einkauf: Ein, zwei Bergsportläden, eine Apotheke und auch der Bäcker finden sich gemeinsam mit ein paar Lebensmittelläden in Barruera, dem Hauptort des Tals.

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