Zu Besuch im CERN
Hand auf’s Herz: Einige der Phänomene des Universums sind doch für die meisten von uns weder wirklich vorstellbar noch tatsächlich begreifbar. Man nehme nur mal die Sache mit der Lichtgeschwindigkeit. Eine ganz fundamentale Naturkonstante, die angibt, wie schnell sich Licht im luftleeren Raum ausbreitet. Diese Geschwindigkeit beträgt knapp 300.000 Kilometer pro Sekunde. Oder anders gesagt gut eine Milliarde Kilometer pro Stunde. Wie gesagt: Kaum vorstellbar.
Sie und ganz grundlegende physikalische Zusammenhänge spielen aber wichtige Rollen im Science Gateway, das im Herbst 2023 als Wissenschaftsmuseum der Europäischen Organisation für Kernforschung (CERN) seine Türen für Interessierte öffnete. Bei einem Besuch lässt sich verstehen, warum sich die Begegnungsstätte binnen kürzester Zeit zu einer Touristenattraktion entwickelte.
Vornweg: Ist das Science Gateway nur etwas für Nerds? Mitnichten! Niemand muss ein Physik-Ass sein oder gar von komplizierten Formeln träumen. Für den Anfang genügt es vollkommen, ganz grob zu wissen, worum sich hier, etwas außer- und oberhalb von Genf, zwischen Genfer See und den Ausläufern des Juragebirges alles dreht: Um kleinste Bestandteile unseres Universums. Das CERN ist das weltgrößte Forschungszentrum für Teilchenphysik; hier wird der Aufbau der Materie erforscht.
Hightech in der Tiefe
Geht man über die langen Büroflure des CERN, so scheint einem der verblichene, funktionale Charme des 20. Jahrhunderts scheu anzulächeln. Schnell wird klar: Hier ist mehr Sein als Schein. Alles muss funktionieren, nicht hübsch sein. Die ganze Hightech und damit gewissermaßen auch die ganze wissenschaftliche Schönheit des CERN befindet sich unter der Erde.
Dort, in etwa einhundert Meter Tiefe, liegt der Large Hadron Collider (LHC), ein riesiger Teilchenbeschleuniger. In diesem werden Teilchen erst nahezu auf Lichtgeschwindigkeit und dann zum Kollidieren gebracht. Wie einen U-Bahn-Tunnel, der einen großen Kreis bildet, muss man sich das ganze vorstellen. Erst geht es für die Teilchen, die gleich in ganzen Bündeln losgeschickt werden, durch kleinere Vorbeschleuniger, dann in den großen Kreis, wo die Teilchen schneller und schneller werden. Zum Schluss umrunden sie in nur einer einzigen Sekunde mehr als 11.000 Mal die 27 Kilometer lange Röhre. – Fast Lichtgeschwindigkeit … und: BANG!
Was die Forschenden interessiert, ist der Moment des Aufpralls: Was passiert, wenn die Protonen aufeinandertreffen? Um valide Aussagen treffen zu können, werden etwa eine Million Kollisionen pro Sekunde erzeugt. Besonders auffällige Ereignisse werden analysiert, mit anderen auffallenden Befunden abgeglichen. Es wird weiter beschleunigt, weiter beobachtet; wieder beschleunigt, wieder ausgewertet. Selbst wenn nur die wirklich auffälligen Ereignisse überprüft werden, reichen die Daten für Jahre akribischer Auswertungsarbeit.
Die Beschleuniger laufen immer mehrere Monate am Stück, währenddessen messen vier Detektoren des LHC, was genau passiert. Einer dieser Detektoren ist ATLAS, untergebracht in einem mehrgeschossigen Gebäude nahe des Science Gateway. Der ATLAS-Kontrollraum sieht aus wie eine gewaltige Kommandozentrale. Wer sich im Science Gateway anmeldet und einen der begehrten Plätze ergattert, kann auf einer geführten Tour einen Blick hinter die Kulissen erhaschen. Beim Besuch lassen sich auf den diversen Bildschirmen an den Arbeitsplätzen und an den Wänden des Kontrollraums vor allem Kürzelkolonnen, Querschnitte des Detektors und Diagramme erkennen. Läuft alles nach Plan, leuchtet vieles davon in Grün.
Berührungsängste überflüssig
Ganz und gar selbst ins Experimentieren und Analysieren kommt man im Science Gateway: hier lässt sich Teilchenphysik (ansatzweise und etwas besser) begreifen. Das vom italienischen Architekten Renzo Piano entworfene Gebäude besteht aus zwei miteinander verbundenen Röhren. Als kostenlos nutzbarer Ort der Wissensvermittlung Anfang Oktober 2023 eröffnet, entwickelte sich das Science Gateway binnen kürzester Zeit zu einer Touristenattraktion: Hatte man ursprünglich mit 100.000 Menschen gerechnet, die das Museum pro Jahr besuchen würden, war schon im Frühsommer 2024, also gerade acht Monate nach der Eröffnung, die 250.000er-Marke geknackt. Viele Schulklassen nutzen die Möglichkeit, vor allem aber sind es private Besucher, die in den Genfer Vorort Meyrin kommen.
Die drei Ausstellungen im Science Gateway geben einen Einblick in das CERN, in unser Universum und in die Quantenwelt. Ebenfalls spannend: eine der Science Shows, in denen naturwissenschaftliche Zusammenhänge auf unterhaltsame Art vermittelt werden. Nebenan lässt sich außerdem auch ins Experimentier-Labor zu einem der Lab Workshops gehen. In diesen wird spielerisch an das wissenschaftliche Problemlösen herangeführt. Und weil sich das Angebot neben Erwachsenen und Jugendlichen auch an Kinder ab fünf Jahren richtet, ist es durchaus denkbar, dass schon heute dort eines der ganz großen Talente von übermorgen die eigene Begeisterung für die Logik von Natur und Technik entdeckt.
Gemeinsam finanziert, von vielen genutzt
Das Science Gateway lässt sich ein Stück weit auch verstehen als die an die Öffentlichkeit gewandte und logische Konsequenz einer jahrzehntelangen und nicht immer unumstrittenen milliardenschweren Investition.
Vor 70 Jahren, 1954, wurde das CERN als europäisches Exzellenzzentrum für Physik gegründet. Nach dem 2. Weltkrieg lag das wissenschaftliche Leben in Europa in weiten Teilen am Boden; viele Forschende, darunter Physiker wie Werner Heisenberg oder Niels Bohr waren emigriert, vor allem in die USA und nach England, andere waren tot.
Ein Neuanfang war dringend nötig. So nahm im Laufe der Jahre auf wissenschaftlicher Ebene die Idee Konturen an, ein gemeinsames, länderübergreifendes Atomphysik-Labor zu gründen. Genf als Standort für das CERN wurde wegen seiner zentralen Lage in Europa und seiner internationalen Tradition gewählt. Von Beginn an festgeschrieben: alle Forschungsergebnisse sollen veröffentlicht und keinerlei Forschung soll für militärische Zwecke betrieben werden. Zwölf Nationen unterschrieben bei der CERN-Gründung diese Konvention; heute finanzieren 23 Mitgliedsstaaten die Genfer Grundlagenforschung.
Daneben hatten im Laufe der Jahre am CERN immer wieder auch Innovationen und Technologien ihren Ursprung und eroberten von hier die Welt. So schlug 1989 der britische Physiker Tim Berners-Lee vor, den Kontakt zwischen Forschenden des CERN, die bereits damals aus aller Welt kamen, zu vereinfachen. Wenig später war das World Wide Web geboren, ab 1993 konnten es alle auch außerhalb der Wissenschaft und öffentlich nutzen. Andere Innovationen wie die Vakuumtechnik, die unter anderem für die Solarzellenherstellung von Bedeutung ist oder Technologien, die bei der erfolgreichen Behandlung von Krebs eine Rolle spielen, bekamen hier ebenfalls ihre entscheidende Initialzündung.
Am CERN angestellt sind heute etwa 3.500 Menschen, davon knapp ein Viertel Frauen. Aus mehr als 80 Nationen stammen die Forschenden des CERN. Maschinenbauingenieure arbeiten neben Teilchenphysikerinnen neben Softwareentwicklern. Der Großteil ist 27 Jahre alt und beschäftigt mit einer Doktor- oder Post-Doc-Arbeit. Insgesamt greifen auf die technischen Möglichkeiten am CERN rund 12.000 Forschende zu, die vor allem an Universitäten und anderen Einrichtungen in den Mitgliedsstaaten wirken.
Einige derer, die am CERN forschen, trifft man auch im Science Gateway. Sie haben sich in einem Teil ihrer Freizeit der Wissensvermittlung rund um die Teilchenphysik verschrieben. Hat man also Fragen in den Ausstellungen, kann man sich an eine:n der Freiwilligen wenden und bekommt Kompliziertes laientauglich erklärt. Berührungsängste mit der Teilchenphysik sind beim Besuch so glücklicherweise einmal mehr tatsächlich überflüssig.
Weitere Infos
Hin & weg: Einfach und bequem mit der Straßenbahn #18 aus der Genfer Innenstadt (bspw. Hauptbahnhof/Gare Cornavin) bis zur Endhaltestelle CERN.
Öffnungszeiten & Eintritt: Das Science Gateway ist bis auf wenige Ausnahmen rund ums Jahr geöffnet, der Besuch ist kostenlos.
Was genau machen: Neben den Ausstellungen und den Science Shows gibt es auch Workshops und geführte Touren – für diese kann man sich tagesaktuell anmelden. Es gilt first come, first served; vor allem die Touren sind oft frühzeitig ausgebucht.
Das CERN besuchte ich im Rahmen einer Pressereise von Geneva Tourism und Schweiz Tourismus.