Unterwegs im Valle Maira
„Du schleichst herum wie eine Katze“, bemerkte H. lachend. Tatsächlich bewegte ich mich seit wohl inzwischen gut einer halben Stunden im Zimmer in unserer Unterkunft in Sant’ Anna immer wieder zwischen dem einen Fenster und dem anderen Fenster. Ich schaute wieder und wieder wie hypnotisiert auf die draußen in dicken Blasen auf dem Boden zerberstenden Regentropfen; versuchte auszumachen, ob es da einen Unterschied gäbe zu dem, wie sich der Morgen fünf Minuten zuvor und fünf Minuten davor gezeigt hatte. Inzwischen hatten wir auch vier verschiedene Apps und Regenradare bemüht und jede unserer Quellen sagte etwas anderes. Bei der einen war die Prognose schlechter als bei der nächsten. Doch plötzlich, als würde in den tief hängenden Wolken ein überdimensionierter Hahn zugedreht, hörte es auf zu regnen. Wortwörtlich von jetzt auf gleich.
Hatte es bis gerade eben noch ausgesehen, als würden unseren Wanderpläne schon an Tag zwei harsch gestoppt, war ich nun doch wieder zuversichtlich, dass schon alles irgendwie klappen würde. Wir entschieden uns loszulaufen. Es war Mitte September und wir hatten unseren Weg ins Valle Maira, ein kleines Tal in den Westalpen, gefunden. Zu dieser Zeit ist es für wirklich alpine, mehrtägige Unternehmungen zu spät, denn das Gros der italienischen Berghütten macht nach dem Sommer ziemlich schnell dicht. Auch im Piemont. Doch wir wollten wir es dieses Mal eh nicht sonderlich alpin oder gar abgeschieden. Vielmehr interessierte uns, das kleine, enge Tal mit seinen alten Dörfern näher kennenzulernen.
Selbst heute noch – nicht einmal Instagram & Co haben daran nicht viel geändert – wird das Valle Maira durchaus als Geheimtipp gehandelt. In Deutschland sowieso; wohl auch, weil es per se ein bisschen aufwändiger ist, in die südlichen Westalpen-Gefilde zu gelangen. Und sogar in Turin kann es passieren, dass dein Gegenüber achselzuckend reagiert, wenn du aufs Mairatal zu sprechen kommst. Viele Eingeweihte aber bekommen, kaum ist der Talname gefallen, da wie dort glänzende Augen.
Vom Wandern auf halber Höhe
Das Valle Maira also. Ganz im Südwesten des Alpenbogens gelegen, führen – gewissermaßen „auf halber Höhe“ – alte Wege rund um das piemontesische Tal. In Wanderkreisen bekannt ist dieses Wegenetzwerk seit den 1990er-Jahren als Percorsi Occitani, als Okzitanische Wege oder Mairatalweg.
Als „wild“ wird das Tal oft beschrieben, das Wort „üppig“ trifft das, was wir vorfinden, für mich noch eher: jetzt, im September, mäandern wir durch einst genutzte, inzwischen aber wieder überwucherte Wälder. Wir gehen an Hängen entlang, die über und über von Brombeerbüschen überrankt sind, hier und da findet sich noch eine dunkle Frucht. Dann wieder laufen wir auf Teppichen von Esskastanien. Und immer wieder entdecken wir – ach, was heißt das schon! – wir stolpern förmlich über riesige Steinpilze, über Unmengen von Birkenröhrlingen und andere bekappte Köstlichkeiten. Einfach so, direkt am Weg.
Vom Haupttal zweigen viele kleine Seitentäler ab. Diese zu umlaufen, dauert. Mitunter scheint unser Zwischen- oder Tagesziel zum Greifen nah, doch wir sind noch mehrere Stunden unterwegs, bevor wir einen Bogen und noch einen Bogen abgegangen sind, um die Häuser, den Weiler oder das Dorf zu erreichen, die wir schon lange zuvor erblickt hatten. Erst am Ende unserer Wanderung, als wir auf der kleinen Straße aus dem Tal hinausfahren, wird nochmals klarer, wie weit ab vom Schuss viele der Ortschaften tatsächlich liegen.
Vom Abwandern
Mit dem Ende des 19. Jahrhunderts verließen viele Menschen das Valle Maira und auch die angrenzenden Täler, um vor allem in der Po-Ebene ihr Glück zu suchen, wo ab 1899 bei Fiat Autos vom Fließband liefen und überhaupt die Industrialisierung einsetzte und damit das Auskommen leichter als in den Bergen zu finden war. Über mehrere Jahrzehnte waren nun vor allem die abgelegenen Weiler des kleinen Tals noch stärker als andere ländliche Gegenden von der Abwanderung betroffen. Vor allem junge Einheimischer gingen in die Städte; die kleinen Dörfer verfielen immer mehr.
Dann brachen die 1990er Jahre an. Die Idee, durch einen sanften Tourismus Menschen auf den Persorci Occitani ins Tal zu lotsen, die das Wenige wie Großartige, das es hier gibt, zu schätzen wissen, hat von da an den einen oder anderen Arbeitsplatz erhalten oder sogar zusätzlich geschaffen. Auch vielen alten Mauern ist inzwischen wieder neues Leben eingehaucht; einzelne Häuser und ganze Siedlungen sind heute behutsam in der traditionellen Bauweise aus dunklem Stein und Holz restauriert.
Vom Schauen und Hören
Während mein Blick immer wieder über die großartige Natur des Tals streift, beschäftigt mich aber vor allem eines: Was hat die Menschen einst bewegt, überhaupt hier und in anderen, ähnlich abgelegenen Westalptälern zu leben? Derartige Fragen nach dem „Warum?“ hinter den Dingen faszinieren mich, ich beginne begierig Informationen zu sammeln. Erklärungen finden sich dieses Mal vor allem in der Geographie und in der Geschichte des Piemont, dem Land „am Fuße der Berge“: Zum einen war die morastig-feuchte Po-Ebene lange Zeit schlichtweg zu unwirtlich, um sich dauerhaft niederzulassen und man suchte sich stattdessen lieber einen Hügel oder eine andere Erhöhung, um Siedlungen zu bauen. Zum anderen erlebte das Piemont in seiner Geschichte immer wieder lange Kriegsphasen, in denen mitunter jeder gegen jeden kämpfte. Sich zurückzuziehen in die Berge, eine kleine Scholle urbar zu machen und einfach froh zu sein, sich einigermaßen sicher vor Angriffen fühlen zu können, erscheint da ziemlich einleuchtend. Mehr noch: die Geschichtsschreibung des Valle Maira spricht von regelrechten Perioden der Blüte, trotz aller Abgeschiedenheit. Mehr Schritt für Schritt nähern wir uns ans Tal, an seine Geschichte und seine Kultur an, die ein starkes okzitanisches Gepräge hat. Das zeigt sich bis heute vor allem in der Sprache und in den Bräuchen, in der Architektur und in der Küche.
Das Valle Maira auf dem Mairatalweg quasi in Form eines Hufeisens zu umrunden, dauert etwa zwei Wochen. Wir hatten uns für die erste Hälfte entschieden. In Dronero waren wir auf etwa 600 Meter Höhe losgewandert, sechs Tagen später werden wir das Rifugio Campo Base gut eintausend Meter höher erreichen. Auf weniger als 50 Kilometern Luftlinie erleben wir die fließenden Übergänge von dichten Eichen- und Kastanienwäldern auf sanften Bergkuppen hin zu tiefen Schluchten mit senkrecht abfallenden Felswänden, über denen sich Lärchen allmählich herbstlich verfärben. Noch weiter oben sind die Bergweiden offen und weit.
Unterwegs treffen wir selten auf andere Menschen. In den kleinen Ortschaften sieht es häufig anders aus: zur Mittagszeit finden sich mitunter überraschend Viele zum gemeinsamen Essen im Gasthaus ein. Und auch abseits dieses Stunden erleben wir mancherorts ein fast schon quirliges Kommen und Gehen. Und sei es nur auf kurz einen Kaffee oder Wein im Stehen an der Bartheke, bevor es wieder an die Arbeit geht. Unser Tun in diesen Tagen beschränkt sich derweil auf das Schauen und Hören und vor allem: auf das Gehen.
Tag vier hält gleich mehrere Überraschungen parat: In der Morgendämmerung werde ich wach. Da ist ein Geräusch, das ich zunächst nicht so recht zuordnen kann. Doch dann habe ich eine Vermutung. Ich schlüpfe aus dem Bett und in meine Flipflops, gehe leise die kleine Treppe hinunter und öffne die Tür unseres Zimmers. Der taufrische Tag in Camoglieres empfängt mich, untermalt vom Röhren mehrerer Hirsche. Woher genau die sonoren Laute kommen, lässt sich nur vage verorten. Mal klingt es, als stünden die Tiere direkt hinter der Siedlung am Berg. Dann wieder, als würde der Klang von den gegenüberliegenden Hängen hinübergetragen. Vor allem aber scheint es, als würden beide Talseiten auf geheimnisvolle Weise miteinander kommunizieren.
Dieses besondere Gefühl, dass diese Hier- und jenes Da-Drüben auf ganz eigene Art zusammengehören, habe ich später am Tag nochmals: Über einen so schmalen wie alten Pfad sind wir zum Santuario di Santa Maria di Morinesio aufgestiegen, eine Wallfahrtskirche in fantastischer Lage und die schon leicht angezuckerten Berge der anderen Talseite rahmen sie in eine beeindruckende Hintergrundkulisse.
Schon da ist klar: auch diese andere Seite des Tals wollen wir kennenlernen, so bald als möglich. Wir wollen weiter Höhe gewinnen in alpinem Gelände und über die Gardetta-Hochebene schlendern, wir wollen nochmals eintauchen in die tieferen Lagen, ebenso wie in die hiesigen kulinarischen Genüsse.
Gut zu wissen
Percorsi Occitani: Etwa 180 Wegkilometer lassen sich in zwei Wochen (am Stück oder verteilt auf zwei Wanderungen) gut laufen, dabei hat man die Wahl aus 26 Etappenstützpunkten.
Hin und weg: (Mit dem Zug nach Turin.) Von Turin mit der Bahn nach Cuneo, von dort weiter mit dem Bus nach Dronero, dem Hauptort am Taleingang. Will man erst weiter im Tal mit der Wanderung beginnen, dann lässt sich von Dronero mit dem Bus bis nach Acceglio fahren.
Beste Jahreszeit: für die niedriger gelegenen Etappen Spätfrühling und Frühherbst; für den Alpinteil der Sommer (dabei die vergleichsweise kurzen Öffnungszeiten der Hütten beachten).
Übernachten: Jeweils als Etappenstützpunkt, posto tappa, fungieren zumeist Berghütten/rifugios bzw. einfache oder komfortablere Gasthäuser; man wird jeweils auch verpflegt.
Ausrüstung: komplette, wetterangepasste Bergausrüstung inkl. Wanderschuhe mit gutem Profil bzw. Bergstiefel; Wanderstöcke empfehlenswert.
Karten und Apps: Topografische Karte „Valle Maira dei sentieri“ von L‘Escursionista im Maßstab 1:25.000.
Sonst noch
Museen und Kirchen: Die Identität des Mairatals ist stark vom Okzitanischen geprägt. Historisch reicht diese Kultur- und Sprachregion vom äußersten Norden der katalanischen Pyrenäen über Südfrankreich bis in die Westalpentäler des Piemont. Teilweise wird im Valle Maira noch heute okzitanisch gesprochen. Sehr empfehlenswert, um tiefer in die okzitanische Geschichte einzutauchen, ist ein Besuch im Museum Sòn de Lenga, das dem okzitanischen Kulturzentrum Espaci Occitan in Dronero angeschlossen ist. Die Ausstellungsinhalte gibt es neben Italienisch und Okzitanisch teils auf Englisch. Unterwegs im Tal, trifft man immer wieder auf Bildstöcke und Kapellen sowie Kirchen – die bedeutendste von ihnen ist die in Elva, ausgemalt mit opulenten Fresken. Außerdem interessant, um dem früheren Leben im Tal näher zu kommen: kleine Ausstellungen wie die im Haarmuseum sowie im Sardellenhändler-Museum.
Sich durchs Tal schlemmen: Kultur erleben heißt im Valle Maira vor allem immer auch außergewöhnlich gut zu essen. Ganz gleich, ob es ganz allgemein die herausragende piemontesische Küche oder ganz speziell die okzitanische Küche ist. Bei Einheimischen besonders beliebt ist die Locanda Ca’ Bianca in Roccabruna; in San Damiano Macra wiederum das Restaurant des Agriturismo Lo Puy, mit vielen auf dem Hof erzeugten Produkten. Zu den vielen Spezialitäten, die im Tal probiert werden wollen, gehören: Bagna Càuda, eine warme Sauce, aus Knoblauch, Sardellen und Olivenöl, in die Gemüse gedippt wird. Gehaltvolle Tajarin (die piemontesische, dünne Variation der Tagliatelle), außerdem die Gnocchi-Abwandlung Ravioles mit gebräunter Butter. Für den süßen Zahn wiederum: Bonet, das Dessert schlechthin aus dem Piemont. Alles hausgemacht, versteht sich.
Diese Reise unterstützte in Teilen der Tourismusverband Consorzio Turistico Valle Maira.