Der rätselhafte II. Grad
Ehrwalder Matterhorn wird sie auch genannt, die Ehrwalder Sonnenspitze. Wenn ich so etwas höre, frage ich mich unwillkürlich, von wem solche Vergleiche eigentlich ausgehen: Vom Bergfex, der seine sportliche Leistung mit einem ehrvollen, wohlbekannten Gipfelnamen krönen möchte? Von Urlaubern, die an am Fuße stehen und ihrem Urlaub einen Anstrich von großem Abenteuer verpassen wollen? Von Werbetextern, die nicht zum x-ten Male den Namen „Sonnenspitze“ schreiben wollen und im Zweifelsfall zur Übertreibung neigen?
Am unwahrscheinlichsten sind es wohl die Bewohner der betreffenden Täler selbst. Denn auch mit nur einem kleinen Fünkchen Lokalpatriotismus ist doch jeder mit genau jenen Bergen glücklich, die so wunderbar vor der eigenen Haustür in den Himmel ragen. Oder ist doch nicht nur das Gras des Nachbarn grüner als das eigene?
Cornelia und Karl wollen die Ehrwalder Sonnenspitze in Angriff nehmen. Und ich darf dabei sein. Immer dann, wenn ich ein Stück Bersteiger-Neuland betrete, will ich mich besonders gut auf die Tour vorbereiten. Das bringt mir schon mal das Schmunzeln meiner Mitwanderer ein, wenn ich wie heute nun allerlei zum rätselhaften II. Grad gelesen habe oder im Zweifelsfall auch mal den Autor eines Bergbuchs (und meines Vertrauens) anschreibe, um weitere Tipps und Hinweise zu bekommen.
Wer partout die Matterhorn-Assoziation braucht: Die elegante und stolze Form der Ehrwalder Sonnenspitze lässt sich am besten aus etwas Entfernung anschauen. So erhasche auch ich immer wieder schöne Blicke, als ich an einem frühen Sommermorgen auf der B23 von Garmisch-Partenkirchen gen Ehrwald fahre. Am Ausgangspunkt, dem Parkplatz der Talstation der Ehrwalder Almbahn, ist derweil erst mal nicht viel zu sehen, es geht stracks in den Wald hinein.
Klar, da wir heute einiges vor uns haben, entscheiden wir uns für den kurzen und schnellen Anstieg über den Hohen-Gang-Steig zum Seebensee. Noch ganz entrückt liegt der See morgendlich frisch vor der Coburger Hütte. Obwohl ich schon so viele begeisterte Erzählungen gehört habe: Die Hütte muss bis zu einem nächsten Mal warten; wir suchen uns am Südende des Sees einen schmalen Pfad, der uns zur Biberwierer Scharte führt. Hier erst mal, mitten in den Latschen, ein kleines Frühstück, denn weiter oben beginnt schon das Geröll.
Den Klettergurt angelegt und den Helm aufgesetzt. In mich hinein gehört: Würde sich ein mulmiges Gefühl in der Magengegend breit machen? Denn das, was wir heute vorhaben, ist für mich ziemliches Neuland. Im Geiste sehe ich mich schon ganz bald von Karl ans Seil genommen. Doch noch immer wird mir nicht flau. Und meinem Bauchgefühl kann ich meistens vertrauen. Also auf!
Die Schrofen- und Rinnenkletterei, die bald einsetzt, geht erstaunlich gut von der Hand und vom Bein. Cornelia vornweg, ich schön in der Mitte, Karl immer von hinten ein Auge aufs Geschehen. Ein, zwei Stellen klettert Karl mir vor. Zeigt mir, wie ich mich am besten mit den Beinen zwischen den Felsbrocken verkeilen kann. Klettert wieder runter, lässt mich vor und gibt mir so ein wunderbar sicheres Gefühl. An einer Stelle geht es noch kurz sehr luftig eine Passage nach links. Dann, nach einem ebenfalls luftigen Band und schneller als gedacht, gelangen wir zum Hauptgipfel mit seinen 2.417 Metern.
Bis hierher habe ich noch nicht gewagt, den Ausblick richtig zu genießen. Meine Bedenken waren schlichtweg zu groß, ich könnte von der Höhe und den Flanken so sehr beeindruckt sein, dass mich zwischendrin mein Mut verlässt. Diese Gedanken sind hier oben wie weggefegt.
Nach vielen Ooohs, Aaahs und einigen Fotos dann noch über ein kurzes Gratstück zum nördlichen Kreuzgipfel. Mit Karl hatte ich die Abmachung getroffen: Wann immer ich mich unsicher fühlen sollte, würde ich es ihm sagen. Bisher nichts davon. Selbst dieses Gratstück wäre wohl auch ungesichert gegangen. Doch Karl geht kein Risiko ein und sichert mich, die ich klettertechnisch reichlich grün hinter den Ohren bin, und Cornelia kurz hinüber.
Am Kreuzgipfel dann überkommt mich tiefes Glück, gemeinsam mit Freunden hier oben zu stehen. Weit unter uns der türkis schimmernde Seebensee, auf der anderen Talseite zieht sich der Weg hoch zum Gatterl und weiter zur Zugspitze, den wir ein Jahr zuvor in der größten Sommerhitze gelaufen sind.
Jetzt aber erst mal sicher vom Gipfel hinab. Immer schön langsam und mit großer Obacht setzen wir jeden Schritt. Im schotterigen Steilgelände kommt eine Stelle, an der ich doch lieber um die Sicherung durch Karl bitte: Die nächsten zehn Meter sind zwar mit Drahtseil versichert, aber es geht reichlich steil und sehr bröselig tief nach unten. Wohler fühle ich mich da mit der zusätzlichen Seilsicherung.
Der schönste Moment für mich bei einem anstrengenden Abstieg ist immer dann, wenn der Berg wieder langsam grüner wird. So auch heute: Allmählich flacht das Gelände aus und bald haben wir eine kleine Mulde gefunden, von der wir nochmals den wunderbaren Blick auf die umliegenden Gipfel genießen können.
Jetzt stellt auch mein Körper auf Entspannungsmodus. Die verbleibenden Höhenmeter flink hinab durch riesige Blütenteppiche. Unten, am Seebensee, dann nicht lange gefackelt – und hinein in das erfrischende Nass. Welch gebührender Abschluss!
Fazit: Die Ehrwalder Sonnenspitze ist mit Sicherheit eines meiner Highlights in diesem Jahr. Mental und praktisch gesichert durch klettererfahrene Freunde, ist es ein phantastisches Gefühl, mit dem Berg auf Tuchfühlung zu gehen. Immer vorausgesetzt für die beschriebene Überschreitung: Gutes und stabiles Wetter. Im Idealfall könnt ihr dann noch in den Seebensee springen oder bei einem Eiskaffee in Ehrwald den Blick auf euer Gipfelziel genießen – zum Beispiel, passender geht’s nicht – von der Terrasse des Hotel Sonnenspitze.