Kellespitze: Der Berg, der nicht mehr Metzenarsch heißen sollte
Wenn ich irgendwo „Tannheimer Tal“ hörte, begann bei mir immer das große Kopfkino. Vor einigen Jahren hatte ich den Namen das erste Mal wirklich bewusst wahrgenommen: Quasi südlich von Füssen gelegen und zu den Allgäuer Alpen gehörend, gilt das Hochtal wegen seiner Schneesicherheit als ein beliebtes Ziel bei Wintersportlern. Im Sommer dann teilen sich vor allem Wanderer und Kletterer das Revier
In den Tannheimer-Tal-Winter hatten wir bereits auf einer Skitour auf’s Füssener Jöchl hineinschnuppern können. Nun war endlich der Sommertest gekommen. Als Quartier suchten wir uns die Tannheimer Hütte aus: Von hier könnten wir eine Tour auf die Kellespitze unternehmen. Und am nächsten Tag über den Friedberger Klettersteig wieder ins Tal gelangen. Doch manchmal kommen die Dinge etwas anders als man denkt. Und zwei Stunden später weißt Du, wozu’s gut war ….
Als guter Ausgangspunkt, um zur Tannheimer Hütte zu wandern, bietet sich Nesselwängle an. Von Osten her ins Tannheimer Tal kommend, bleibt man auf der Bundeststraße und lässt den Ort erst mal rechts liegen. Am Ende der Siedlung, im Ortsteil Schmitte, befindet sich rechter Hand ein Wanderparkplatz. Parkschein lösen und los geht’s, erst mal immer der Ausschilderung Gimpelhaus folgend.
Mit dem Start bei hochsommerlichen Bedingungen ist das natürlich immer so eine Sache. Mein Ding ist es absolut nicht. Ich laufe lieber im Kühlen als bei zu hohen Temperaturen. So lässt sich meinerseits über den bald recht steilen, südseitigen Weg hinauf zum Gimpelhaus auch nicht sehr viel mehr sagen als: Man bringt ihn am besten in seinem ganz eigenen, gleichmäßigen Tempo hinter sich. Der Hochwald ist der einzige Trost.
Vom Gimpelhaus erblicken wir schon ein Stück weiter östlich die Tannheimer Hütte. Nahezu eben geht es dahin. Und noch bevor wir sie erreicht haben, ist der Wadenschinder von vorhin vergessen.
Die Tannheimer Hütte ist in die Jahre gekommen. Sie ist eine dieser Hütten, über deren Modernisierung seit einigen Jahren heftig diskutiert wird. Die einen wollen alles so belassen, wie es ist. Die anderen wollen einen modernen Ersatzbau verwirklichen. Hintergrund für den Stein des Anstoßes sind hier wie auch auf anderen Hütten die immer umfassenderen Auflagen zu Brandschutz, Küche, Sanitär. Für den Alpenverein stellen sich die gleichen Fragen wie für einen Häusle-Modernisierer: Umbau oder Abriss?
Im Sommer 2013 also: Hier oben auf der Tannheimer ist’s gemütlich. Aber eben auch sehr rustikal und etwas eng, wenn man sich das Haupthaus anschaut. Begeistert sind wir, als wir im Nebenhaus, das bereits in den letzten Jahren neu aufgebaut wurde, ein wunderschönes Lager bekommen: Hier finden gut ein Dutzend Wanderer Platz. Nicht etwa in einer langen Lagerreihe, sondern vielmehr in kleinen Zweier- und Mehrbettkojen. Mit viel Platz dazwischen für Rucksäcke und Utensilien.
Doch erst einmal das Gipfelziel in Augenschein genommen: Von der Tannheimer Hütte gibt es mehrere lohnender Ziele – Wanderer gehen zur Roten Flüh, Kletterer zieht es zum Gimpel. Außerdem wären da Rundwanderwege aus dem und ins Tal sowie der Übergang zur Otto-Mayr-Hütte bzw. Bad Kissinger Hütte.
Wir hatten indes die Kellespitze auf dem Plan. Einer dieser Berge, über dessen Schreibweise man sich nicht ganz einig ist. So ist er auch als Kellen- oder Köllespitze in Karten und Tourenführern zu finden. Egal wie im Detail geschrieben, alles ist – besonders für ein royales Ohr – ziemlicher als „Metzenarsch“, wie der Berg ursprünglich genannt wurde. Denn die „Matz“, die im alten Gipfelnamen steckt, war nicht nur frech und redegewandt, sie flirtete gern und – nun ja, war: auch käuflich. Mit diesem Namen war also wohl Schluss, als Marie von Preußen, Mutter von Ludwig II., im Jagdhaus auf dem Tegelberg weilte. Das liegt nur wenige Kilometer Luftlinie entfernt in Bayern. Als sie die umliegenden Gipfel erklärt haben wollte, griff man nun, so ist’s überliefert, kurzerhand auf den Flurnamen „In der Kelle“ zurück …
Wer die Kellespitze von Norden her, aus dem Raintal, betrachtet, der glaubt angesichts der 700 Meter hohen, steil abfallenden Wände nicht, dass es hier für Wanderer überhaupt irgendwie hoch geht. Doch es gibt einen Durchschlupf:
Er ist gefunden, wenn man sich am leichtesten – über einen schmalen Steig durch allerlei Geröll und abfallende Grashänge – zunächst von Süden her nähert. Von der Tannheimer Hütte, auf der wir alles „überflüssige“ Gepäck lassen, sind es etwa zwei Stunden bis zum Gipfel.
Wenn schon der erste Teil des Weges, unter dem Gimpel entlang, landschaftlich tolle Blicke zulässt – so richtig interessant wird’s ab der Nesselwängler Scharte: Es geht zunächst über nicht allzu steile Grasstufen bergauf, bevor einige Meter in einer Felsrinne abgeklettert werden muss. Spätestens ab hier heißt es nun nochmals konzentrierter zu gehen – erst durch ziemlich viel Schutt, dann hinauf zu einer Geröllrinne und einem kleinen Quergang. In der Ausstiegsschlucht ist die Schlüsselstelle durch eine Seilsicherung und einige Eisenklammern erleichtert. Ein bisschen Kraft braucht’s dennoch, um um den Klemmblock herumzukommen. Die letzten Meter geht es dann recht einfach durch Schrofengelände zum Gipfelkreuz auf 2.238 Metern – ein genialer 360-Grad-Blick inklusive.
Zurück geht’s auf dem gleichen Weg. Abends, auf der Tannheimer Hütte, lassen wir uns das 3-Gänge-Menü schmecken. Irgendwann, es ist fast dunkel, kommen zwei Kletterer vom Gimpel zurück. Es dauert nicht lange und sie lassen sich die Gitarre geben. Ebenso schnell sind ein paar Holzscheite angezündet, vier Bänke zusammengerückt – und mit einigen Bier und noch mehr Liedern erleben wir hoch oben über dem Tal bis spät in die Nacht eine kleine, feine Lagerfeuer-Romantik.
Am nächsten Tag geht es zeitig auf die Rote Flüh. Eigentlich für uns nur eine – wenn auch sehr schön gelegene – Zwischenstation: Von der Tannheimer Hütte erreicht man sie in etwa 1,5 Stunden. Sie ist Dank des für die Region vergleichsweise einfachen und kurzen Aufstiegs sehr beliebt. Bis zur Judenscharte reines Gehgelände, schließt sich unter dem Gipfel eine mit Drahtseil abgesicherte Steilpassage an, bevor es nochmal kurz durch Schrofengelände geht.
Doch unseren Plan, über den Friedberger Klettersteig die Runde ins Tal abzuschließen, müssen wir auf später verschieben, denn wir haben Teile unserer Klettersteig-Ausrüstung daheim vergessen. So etwas ist ärgerlich, aber kommt eben auch mal vor. Einige Stunden später wissen wir, wozu unsere zeitige Rückkehr zum Parkplatz gut ist: Ein Marder hat Gefallen an einigen der Kabel unter unserer Motorhaube gefunden. So gibt’s für uns eine Huckepack-Fahrt mit dem Abschleppdienst hinaus aus dem Tannheimer Tal …
Fazit: Ein Traum! – Bei einer Wanderung auf die Kellespitze zeigt sich das Tannheimer Tal definitiv von seiner Schokoladenseite. Jeder, der Steilaufstiege nicht scheut und der sich auch im teils brüchigen Fels wohl fühlt, wird diese Tour als herausragend in Erinnerung behalten. Vorausgesetzt, man ist trittsicher, schwindelfrei und kommt auch mit kurzen kraftfordernden Kletterpassagen (maximal II) zurecht. In jedem Fall sollte es trocken sein und gute Sicht herrschen.