Oder doch nur: Überschreitung der Weitalpspitz
Der Münchner Olympiaturm pikst in den Nebel, seine Spitze wird verschluckt von dem dicken, grau wabernden Dunst, der sich wie eine Decke über die Stadt gelegt hat. Es ist einer dieser Novembersonntage, an dem selbst der morgendliche Weg zum Bäcker viel Überwindung kostet.
100 Kilometer südlich, im Graswangtal, ein ganz anderes Bild: Zu fünft laufen wir los vom Parkplatz an einer Brücke. Direkt hinter uns liegt die deutsch-österreichische Grenze. Und auch der Nebel liegt hinter uns. Plötzlich. Als wäre ihm kein Durchlass gewährt worden. Dabei muss Piefke auf der schmalen Straße durch das Tal schon sehr genau aufpassen, um überhaupt zu merken, dass er nicht mehr ganz daheim ist. Ach Europa, wie angenehm können Deine Grenzen sein.
So schlängeln wir uns durch den sonnengefluteten Winterwald, in dem alles glitzert und funkelt. Und schon nach wenigen Minuten zeigt uns ein schön anzuschauender Stein erneut die grüne Grenze an. Zurück in Bayern. Ohne Pfad durch den Wald bergauf orientierend, ist unser erstes Etappenziel die Kehre einer Forststraße. Über diese führt auch die offizielle Ski-Route, der wir von nun an folgen, auf die Weitalpspitz.
Tatsächlich gab es hier jüngst mindestens einen optimistischen Skifahrer. Und während wir uns die Schneelage so anschauen hoffen wir für ihn, dass es ga-a-anz alte Ski waren, die er unter den Füßen hatte. Stein-Ski, wie Cornelia sie nennt.
Bald erreichen wir die Weitalm. Im vorletzten Winter, als ich die Tour bereits mit Schneeschuhen gegangen bin, schaute von der Almhütte nur noch das letzte Stückchen Dachfirst heraus, so viel hatte es geschneit. Heute können wir nun auf der Bank vor der Hütte die Sonne genießen. Auf welcher Reise hat sich wohl der Wanderer befunden, der hier das Penguin-Heftchen „Hannibal’s crossing of the Alps“ zurückließ?
Hinter der Hütte geht es noch ein Stück bergauf, immer am Gratrücken entlang, hier und da enger durch Latschen hindurch. Dann: Das Gipfelkreuz. Gestiftet wurde es, wie wir später bei einem Kaffee in der Ettaler Mühle erfahren, vom Kanu(!)-Verein Schongau. Dinge gibt’s.
Die Aussicht von hier ist phantastisch: Hinter uns die Hochplatte, vor uns die Zugspitze, hinten die Lechtaler Alpen.
Kurzes Abwägen: Gehen wir den gleichen Weg zurück oder kann’s noch weiter gehen? Die attraktivere Variante scheint uns der Gratweg hinüber zum Weitalpjoch. Beim nächsten richtigen Schnee, der drauf kommt, ist’s das wohl – zumindest zu Fuß – für diesen Winter gewesen. Heute aber bewegen wir uns fast genauso flink wie die Gamsen, die wir unterhalb des Grats entdecken.
Wer zum Weitalpjoch ganz viel Kondition mitbringt, der könnte von hier auch weiter zur Hochplatte aufsteigen. Wir belassen es heute bei unserer kleinen Frühwinter-Wanderrunde und steigen durch das Roggental hinab. Nicht, ohne von einem stolzen Gamsbock beobachtet zu werden, der beim Abstieg plötzlich weit über uns thront. Fast scheint er zu fragen, was wir und auch einige andere, versprengte Wandergrüppchen zu dieser Jahreszeit noch in seinem Revier machen.
Im Roggental schießen bald immer mehr Bäche steil die Felswände hinunter. Sie bahnen sich ihren Weg in den Mittereckgraben, der unterhalb des Weges laut dahinplätschert. Indes leistet die Sonne ganze Arbeit: Die mit Schnee bedeckten Bäume lassen ihre Last von sich abgleiten. Äste katapultieren hier und da nach oben, Schnee-Wurfgeschosse landen auf unseren Rucksäcken und Schultern.
Fast hat diese Frühnachmittags-Stimmung etwas Vorweihnachtliches. Und ich würde mich nicht wundern, wenn Vater und Sohn mit einer frisch geschlagenen Tanne ums Eck kämen. Da es aber noch einen Monat zu früh ist, passiert nichts dergleichen. Wir kommen an der Ammerwald-Alm aus dem Wald und freuen uns über unser zweites Auto, das wir heute früh hier abgestellt haben. So sparen wir uns den unvermeidlichen Straßenhatscher hinab zur Grenze.
Gut zu wissen: Die Weitalpspitz liegt etwas versteckt im Graswangtal. Auf Karten (scheinbar nicht nur auf meiner, der 50.000er vom Landesvermessungsamt) ist der von uns benutzte Aufstiegsweg mitunter nicht richtig eingezeichnet. Der Aufstieg dauert rund zwei Stunden, die Abstiegsvariante über das Weitalpjoch ist etwa genauso lang.
PS: Zu einer „richtigen“ Alpenüberquerung geht’s übrigens hier.