Unterwegs in den spanischen Hochpyrenäen
Genau genommen waren wir wegen der Sommersonnenwende und den dazugehörigen Bergfeuern, den Falles, in die spanischen Pyrenäen gekommen. Doch nun steckten wir erst mal im Winter fest.
Es hatte schon seinen guten Grund, dass in unserer Herberge im Vall de Boí, von wo aus wir unsere Wanderung starteten, noch immer das Wintermenü auf der Karte stand. Obwohl es auf Mitte Juni zuging. „Die nächste Woche bleibt`s noch kühl“, hatte der Kellner die Karte erklärt, auf der sich eher für den Dezember typische Gerichte wie sopa de galets, ein rustikaler Eintopf mit Muschelnudeln, sowie estofado, ein kräftiger Gulasch, wiederfanden.
Wie kühl „kühl“ sein sollte, dämmerte uns erst bei unserem Aufbruch, als wir einen kurzen Abstecher in das Nationalparkinfozentrum in Boí machten: „Es soll bis auf 1.800 Meter runter schneien“, meinte der Mann hinter dem Info-Tresen. So kam‘s dann auch: Die erste Hütte, auf der wir bei unserer Wanderung durch den Nationalpark Aigüestortes übernachteten, das Refugi d’Estany Llong, war einigermaßen eingezuckert, als wir am Morgen vor die Tür traten.
Endlich: Aigüestortes
Mit vielem hatte ich gerechnet, aber nicht unbedingt mit Neuschnee. Bei meinem ersten Besuch in der Gegend vor vielen, vielen Jahren hatte ich eine Landkarte vom Parc Nacional d’Aigüestortes i Estany de Sant Maurici, wie er mit vollständigem Namen heißt, gekauft. All die Zeit hatte ich den Wunsch, irgendwann einmal hier zu wandern. Jetzt stand ich mitten drin in diesem Wunsch. Endlich! Por fin! – Und sah nichts. Oder zumindest nicht viel.
Je weiter wir vom Refugio d‘Estany Llong aufgestiegen waren, desto rarer machte sich die Sicht im immer dichter werdenden Schneetreiben. Dass wir den Weg dennoch finden würden, daran hatte der Hüttenwirt keinen Zweifel gehabt, bevor wir aufbrachen. „Der Weg ist im Grunde leicht und ungefährlich“, zerstreute er unsere leisen Bedenken.
Es waren Bedenken, die ich oft zu Beginn einer Tour hatte. Wenn ich mit dem Gebirge oder Gebirgsstock noch nicht vertraut war, wenn ich mir trotz allen Lesens im Vorfeld kein rechtes Bild machen konnte von möglichen Herausforderungen der Strecke.
Inzwischen hatte sich ein Gefühl der Zuversicht breitgemacht. Der Pfad war trotz Schnee gut zu finden. Selbst im Blockwerk ging es mit Bedacht gut voran. Laut Karte würde sich das Gelände nun abflachen und über den Pass am Collada de Dellui auf gut 2.500m führen. Kurz unterhalb dieser höchsten Etappenstelle trafen wir auf ein niederländisches Pärchen.
Die beiden standen unschlüssig im Weißgrau. Bei all dem Schnee hatte die junge Frau, Sally, der Mut verlassen, heil zur nächsten Hütte zu kommen. Wir sprachen eine Weile miteinander, schauten in die Karte, begutachteten die Grödel an ihren Schuhen. Wie sich herausstellte, hatten sie noch nicht sonderlich viel Bergerfahrung; vor allem nicht bei Schnee. Wir wollten ihnen nicht hineinreden in ihre Entscheidung, doch objektiv betrachtet erschien der Weg nach vorn auch für sie machbar und logischer als der zurück. Wir könnten sie in unsere Mitte, den Berg hinauf und auch wieder hinunter nehmen. Eine halbe Stunde später, auf dem Pass, schaute ich in das nun strahlende Gesicht von Sally.
Der Pass markierte auch die Grenze zwischen der Kernzone des Nationalparks und der Außenzone, in die wir jetzt wieder gehen würden. Überhaupt sollte unsere gesamte Wanderung von diesem Rein und Raus gekennzeichnet sein, diesem Hin und Her zwischen streng geschützter und noch wirtschaftlich genutzter alpiner Landschaft.
Geprägt ist diese Landschaft mehr als alles andere vom Wasser, worauf auch der Name des Parks hinweist: „Aigüestortes“ bedeutet so viel wie „sich windende Wasser“. Wasser findet man dann auch in den verschiedensten Formen. Quellen und Bäche, Flüsse und Wasserfälle. Und überall Seen. Viele von ihnen liegen heute unberührt wie eh und je in den von Gletschern geformten Tälern. Andere sind aufgestaut.
Staumauern mit Charme
Die Pyrenäen-Hochlagen waren zwar lange Zeit weit weg von allem, doch Anfang des 20. Jahrhunderts nahm der Nutzungsdruck auch auf dieses Gebiet zu. Vor allem die Wasserkraft war in den Blick gerückt, viele Staudämme wurden gebaut. 1955 dann wurde der Nationalpark gegründet; heute werden zusätzlich einzelne Seen wieder renaturiert.
Als wir auf der Südseite des Collada de Dellui absteigen, schlängeln wir uns an mehreren dieser aufgestauten Seen vorbei. Dabei sind die menschlichen Eingriffe weit entfernt davon, monströs zu wirken. Im Gegenteil: die Architekten der kleinen, kunstvoll aus Granit gebauten Dämme scheinen fast ebenso sorgsam auf die Ästhetik geachtet zu haben wie bei der seinerzeit groß angelegten Erweiterung von Barcelona.
Gemeinsames Essen auf gemütliche Hütten
Am frühen Nachmittag treffen wir auf dem Refugi de Colomina ein. Schnell ist klar, dass diese Hütte gut und gerne schon jetzt meine Lieblingshütte auf dieser Wanderung sein würde. Die bollernde Wärme des kleinen Gaskamins kommt mehr als recht nach den Stunden in der Kälte. Dazu noch ein großzügiges Lager, das erst vor kurzem erneuert wurde, ein sympathisches Pächterpaar und riesige Fenster. Ein paar Stunden stiebt an den Panoramascheiben noch der Schnee vorbei. Dann legt sich der Wind, die Wolken heben sich und zum ersten Mal sehen wir, wo wir heute sind. Die Begeisterung fürs Panorama überbietet fast noch die Freude über das Abendessen.
Das gemeinsame Essen lernen wir als ein wunderbar entspannendes Phänomen der katalanischen Hütten kennen: beim Tischdecken hilft jeder ein wenig, bevor es ein dreigängiges Menü gibt. Jeder nimmt sich dazu von den Tabletts und aus den Schüsseln und Terrinen, die groß und schwer auf den Tisch kommen. Suppen und Salate, botifarra (eine Art frische Bratwurst, die gekocht oder gebraten wird) werden so während unserer Wanderung aufgefahren, genauso wie Forellen oder Schweinebacken. Es geht so regionaltypisch schmackhaft wie deftig zu, doch auch die Vegetarier unter uns verhungern nicht.
Grandios (wohl) auch bei Nacht
An einer Wand der Colomina-Hütte, nahe des Kamins, in einer Ecke mit gemütlichem Sofa und solarbetriebener Mechfachsteckdose zum Laden der Handys, hängt ein Foto. Es muss vom Berg hinter der Hütte aufgenommen worden sein: im Vordergrund ein See, der Estany de Colomina, dahinter die Umrisse der Hütte. Darüber spannt sich ein dunkler, sternenklarer Nachthimmel, wie wir ihn nur noch weit ab von dicht besiedelten Regionen finden.
Seit 2018 trägt der Nationalpark den Titel Starlight Reserve, was genau jenen besonders eindrucksvollen Sternenhimmel verspricht, der sich schon aus der Karte erahnen lässt. Doch so sehr ich es mir jeden Tag aufs Neue vornehme – meine Idee, nachts noch mal aufzustehen und raus zu gehen, vielleicht sogar Fotos zu machen, wird jeden Abend von meiner Müdigkeit torpediert; meist sind wir alle schon vor zehn im Bett. Tag- oder nachtaktiv? Für mich scheint es dieses Mal nur ein Entweder-oder zu geben. Nighty-night. Buenas noches i bona nit. Und: alles zu seiner Zeit.
Gut zu wissen
Hinkommen: Der Parc Nacional d’Aigüestortes i Estany de Sant Maurici befindet sich im äußersten Nordwesten von Katalonien und ist der bis dato einzige Nationalpark der Autonomen Gemeinschaft. Vor allem von Westen (vom Vall de Boí) und vom Osten (vom Vall d‘Àneu) lässt sich der Park gut erreichen. Wer erst ein wenig Strecke mit dem (Allrad-)Taxi machen will, kann sich von Boí bzw. von Espot aus für ein paar Euro bergauf chauffieren lassen, für viele Spanier ist das die gängigste Art des Starts. Will man lieber sofort zu Fuß starten, ist auch das problemlos und zumeist über Wanderwege möglich.
Kartenmaterial & Co: Die Institut Cartogràfic de Catalunya hat die Karte „Parc Nacional d‘Aigüestortes i Estany de Sant Maurici“ im Maßstab 1:25.000 herausgegeben. Da die Wege zumeist ausreichend, aber bei weitem nicht mit so vielen Markierungen wie in den Alpen versehen sind, ist zusätzlich eine Navigationsapp empfehlenswert. Insbesondere bei Schnee oder Nebel finden man so schnell wieder auf den Weg zurück oder kommt gar nicht erst davon ab. Im Rother Wanderführer „Pyrenäen 3. Katalanische Pyrenäen und Andorra“ von Roger Büdeler ist unter anderem der Carros de Foc, die wohl bekannteste Hüttenrunde durch den Nationalpark, ausführlich beschrieben. Diesem Weg sind wir im großen und ganzen gefolgt.
Carros de Foc: Vor gut 20 Jahren haben die Wirte der Nationalpark-Hütten diesen „Feuerwagen“-Weg entwickelt. In Spanien hat quasi jeder, der öfter in die Berge geht, schon von der Runde gehört und viele wollen ihn laufen. Der Carros de Foc verbindet insgesamt neun Hütten und ist seit kurzem auch in einer Erweiterung mit einer Zusatzschleife zu gehen. Wer die Runde gehen möchte und über die eigens für den Carros de Foc eingerichtete Website die Hütten reserviert, wird mit einer Karte und einem kleinen Stempelheft ausgestattet. Hat man die Stempel aller neun Hütten beisammen, gibt‘s ein T-Shirt. Wer auch ohne T-Shirt leben kann, geht über die zentrale Hüttenreservierung La Central de Refugis. Für gewöhnlich wird der Carros de Foc in fünf bis sieben Tagen, zumeist entgegen des Uhrzeigersinns, gewandert. Trailrunner sind ein oder wenige Tage unterwegs für die etwa 60 Kilometer lange Runde. Als schwierigster Pass auf dem Carros de For gilt der Collet de Contraix mit gut 2.700m. Ein zweiter Pass, der Coll de Monestero, ist fast genauso hoch, auch auf dessen Südseite können sich lange Zeit ggf. latent unangenehme Schneefelder halten, auf der Nordseite geht es etwas steiler hinab; Stöcke sind hier von Vorteil.
Anforderungen: Ausgerüstet mit Bergerfahrung, Trittsicherheit und Orientierungsvermögen, sind die Etappen technisch nicht übermäßig anspruchsvoll und von Hütte zu Hütte mit zumeist drei bis vier Stunden recht kurz. Je nach Wetter, Fähigkeiten und Laune lassen sich daher Gipfelabstecher und Pausen gut einplanen oder auch zwei Etappen zusammenlegen. Für den Saisonbeginn wird empfohlen „crampones“ mitzunehmen – insbesondere für den Collet de Contraix. Je nach Wetterlage kann das „Grödel“ oder auch „Steigeisen“ (samt Pickel) bedeuten. Im Fall der Fälle lassen sich der Contraix- und der Monestero-Pass auch umgehen.
Beste Zeit: Bis weit in den Juli hinein kann auf den Pässen noch Schnee liegen. Lässt man sich auf den Hütten morgens etwas mehr Zeit, sind die Chancen groß, dass vorhandener Schnee schon etwas aufgeweicht und sulzig geworden ist, so dass sich alles gut treten lässt. Zwischen Juli und September sind die besten Wanderbedingungen, allerdings kann es dann recht voll werden und Hüttenreservierungen sind ratsam.
Nicht der richtige Moment oder nur einen Tag Zeit?: Schade! Aber … von Espot aus lässt sich mit mit Allrad-Jeep-Taxi der Estany de Sant Maurici erreichen, sicher der Touristenhotspot schlechthin im Park. Viele machen dort einfach nur eine Lunchpause. Hübsch ist auch der Tagesausflug von dort weiter hinauf zu Estany de Ratera und weiter zum Refugi d’Amitges. Auf westlicher Seite, vom Vall de Boí, ist der Aufstieg zum Refugi Joan Ventosa i Calvell landschaftlich besonders eindrucksvoll; parken kann man dafür unterhalb des (dort dann doch großen) Staudamms am Estany de Cavallers.