Im Litzldorfer Bergwald
Spaziert man aus Litzldorf ein paar Minuten bergan, geht es alsbald auf eine kleine Zeitreise in die Geschichte von Bayerns Industrialisierung. Denn am Fuße des Sulzbergs ragen zwischen mächtigen Buchen die Schornsteine eines verlassenen Zementwerks in die Höhe.
In Momenten wie diesem im Litzldorfer Bergwald wird einem bewusst, wie vergleichsweise wenig frühindustrielle Relikte hierzulande zu finden sind: Dass Bayern traditionell anders ist, ist hinlänglich bekannt. Dass Bayern historisch sehr landwirtschaftlich geprägt war, übersehen wir jedoch allzu oft. Rohstoffe wie im Westen Deutschlands waren kaum vorhanden und erst mit dem Ausbau der Eisenbahn ab Mitte des 19. Jahrhunderts holte Bayern in Sachen Industrialisierung auf.
Doch nicht alle Unternehmungen florierten gleichermaßen. Bei Litzldorf hatten zwei Bauern in dem Wasserfall am Litzldorfer Bach Steine gefunden, die sich zur Zementherstellung eigneten. Etwas unterhalb der kleinen Kaskade bauten sie eine Zementmühle mit Brennofen, die 1890 ein Konsortium aufkaufte. Vier Jahre später ging ein Zement- und Mühlwerk in Betrieb, doch nur für wenige Jahre.
Schnell erwies sich der als eigentlich lukrativ eingeschätzte Standort im Wald als wenig wirtschaftlich. Zwar konnte der Kalkmergel vor Ort abgebaut werden, doch der zum Befeuern verwendete Koks musste vom Raublinger Bahnhof aufwendig mit schweren Pferdefuhrwerken bis an den Berg herangefahren werden. Zahlungsengpässe entstanden, Arbeiter wurden entlassen. Als dann noch 1898 ein zerstörerisches Feuer ausbrach, war das Ende des Zementwerks besiegelt.
Abgesehen von einem erneuten Brennversuch nach dem Zweiten Weltkrieg passierte über viele Jahrzehnte nichts auf dem Gelände. Es wucherte zu, die Natur holte sich zurück, was ihr die Industrialisierung abgerungen hatte. 1976 dann stellte man das historische Zementwerk unter Denkmalschutz, Anfang der 1990er-Jahre wurde der Brennofen mit seinen zwei Backsteinschloten restauriert. Die Überreste der übrigen Werksanlagen derweil sind kaum mehr als Ruinen: Mauerreste, moosbewachsen und efeuumrankt. Hier ein Fenster- oder Türbogen, dort ein Keller, Pläne vom Werk sind heute bloß bruchstückhaft vorhanden, viele Details nur vage bekannt. Vielleicht ist gerade das ein Grund, warum ein Waldspaziergang zum Zementwerks auf seine ganz eigene Art geheimnisvoll wirkt.
Tipp: Wenn’s ein bisschen ausgiebiger sein soll: Dieser Ausflug in die Vergangenheit lässt sich hübsch verlängern, beispielsweise am und im Wald über den Wilhelm-Leibl-Weg nach Kutterling und zurück durch die Wiesen nach Litzldorf.
Dies ist eine meiner „52 Eskapaden in den Bayerischen Alpen“, die in Buchform im DuMont Reiseverlag erschienen sind.