Unterwegs im Bayerischen Wald: Die Große Nationalpark-Durchquerung
Einmal quer durch den Nationalpark Bayerischer Wald: Herausfordernd ist’s. Und unvergesslich. Auf dieser Tour lernt der Wanderer das Schutzgebiet von all seinen Seiten kennen: Die wind-umspielten Gipfel und ruhigen Seen, die idyllischen Hochweiden und geheimnisvollen Hochmoore. – Wildnis daheim!
Es gibt Situationen im Leben, da melden sich – ganz leise – Urängste zurück: Dichter Nebel umhüllt mich. Hohl klingt jeder Schritt auf dem Holzbohlen-Steg, der durch das Hochmoor gelegt ist. Gerade habe ich die gelbe Regenjacke ein Stück vor mir allein weiterwandern, im milchigen Weiß-Grau verschwinden lassen. War abgebogen zum Latschensee, der etwas abseits des Hauptweges zwischen den Namen gebenden Krummholzkiefern liegt.
Doch neben dem Weg liegt erst einmal etwas anderes: Ein etwa 30 Zentimeter langer und durchaus kräftiger Knochen. Es ist das erste Zeichen, das ich sehe, dass es hier oben tatsächlich auch größere Tiere gibt. Was das wohl einmal war? Und: Welches Tier hat ihn so sauber abgeknabbert? Etwa ein Wolf? Passend zum Gedanken heißt der Weg, auf dem ich gerade laufe, „Wolf“. Nun weiß ich zwar, dass Meister Isegrim den Menschen meidet. Dennoch merke ich, dass es mir irgendwo tief in meinem Innersten gerade nicht ganz einerlei ist, allein in diesem Moor umherzulaufen. Mitten in der Kernzone des Nationalparks Bayerischer Wald, für mitteleuropäische Verhältnisse: Reichlich weit weg von der nächsten Straße, dem nächsten Dorf. Ich lege einen Schritt zu, bis ich nach einer Weile wieder die gelbe Regenjacke eingeholt habe …
Das Grüne Dach Europas
Wir sind den zweiten Tag im Nationalpark Bayerischer Wald unterwegs. Drei Tage führt uns unser Weg vom nordwestlichen Ende in Bayerisch-Eisenstein zum südöstlichen Zipfel nach Mauth. Dazwischen Wildnis. Viel Wildnis.
Möglich macht dies der besondere Schutzstatus, unter dem die Region seit knapp einem halben Jahrhundert steht: 1970 als erster deutscher Nationalpark eröffnet, bildet er zusammen mit dem auf tschechischer Seite angrenzenden Nationalpark Šumava das Zentrum vom größten zusammenhängenden Waldgebiet Mitteleuropas – „Das Grüne Dach Europas“.
„Grünes Dach“ klingt wunderbar, „Grüne Hölle“ passt genauso: Die Natur hatte uns verschluckt, kaum dass wir die letzten Häuser von Bayerisch-Eisenstein hinter uns gelassen hatten. Es ist Anfang Mai; die Buchen leuchten atomic-green, auch sonst wird der Landschaft in allen erdenklichen Grün-Varianten neues Leben eingehaucht – frisch, hell, blendend.
Während der Nationalparkdurchquerung folgen wir zumeist dem Goldsteig, der gleichzeitig die Tal-ferne Variante des Europäischen Weitwanderwegs E6 ist. Tatsächlich finden wir uns meist nur auf kleinen Wegen, engen Pfaden oder schmalen Spuren. Hier und da wird ein Forstweg gequert. Auf den Wegen treffen wir nur selten Wanderer. Einzig an den drei Hauptgipfeln des Parks – dem Falkenstein, Rachel und Lusen – bekommen wir eine ganz zaghafte Ahnung davon, dass es hier auch durchaus voll(er) werden kann.
Der Gläserne Wald
Schon im Moor vollzieht sich ein spektakuläres Schauspiel: Vom Regen am Vortrag ist die Landschaft getränkt. Über Nacht sind die Temperaturen allmählich gefallen. Auf unserem Bohlenweg durch das Filz – wie das Hochmoor in niederbayerischer Mundart bezeichnet wird – streifen wir immer wieder Sträucher, Büsche und Latschen. Doch die Wassertropfen fallen nicht ab. Sie sind vereist. Oder vielmehr: Sie vereisen gerade. Beim näherer Hinsehen scheint es fast, als sei noch nicht ganz klar, in welchem Zustand es für die Tropfen weitergehen soll. Sie wirken gallertartig.
Später erreichen wir den Rachel. Ein eisiger Wind bläst um den Gipfel. Er stößt die Nebelschwaden gegen die Äste der Bäume und Gräser. Wir können förmlich zusehen, wie sich überall zentimeterdicke Reifschichten bilden.
Am nächsten Morgen dann ein Schauspiel, wie wir es so noch nicht erlebt haben: Die frühlingsfrischen Baumwipfel, aber auch die Sträucher, die Knospen, die Blumen – alles ist mit einem Eispanzer umgeben. Beim Aufstieg auf den Lusen schauen wir in den blauen Morgenhimmel. Ringsum glitzern und funkeln uns klare Kristalle entgegen. Die Morgensonne macht sich ans Werk und knackt dieses Wunderwerk der Natur, sprengt Eishülsen von den Ästen. Ein zarter Windstoß – und die Wipfel lassen in den zerbrechlich-feinsten Melodien ihre glasigen Kleider fallen. Schicht für Schicht.
Etwas gewöhnen muss man sich im Nationalpark an das viele Totholz. Für manch einen passt der Anblick von kahlen in den Himmel ragenden oder auf dem Boden vermodernden Bäumen sicher nicht zum Bild einer intakten Landschaft. Doch hier ist alles so naturbelassen wie möglich: In den Jahren 1983/84 und nochmals 1990 gab es zum Beispiel an Lusen große Windwürfe. Die umgeworfenen Bäume boten die besten Bedingungen für den Borkenkäfer. Er breitete sich erst punktuell aus und brachte dann große Flächen zum Absterben. Trotz vieler Kontroversen: Im Nationalpark entschied man sich, alles seinen natürlichen Lauf gehen zu lassen. Inzwischen wächst ein junger Wald nach.
Um es kurz zu machen: Als wir nach drei Tagen wieder aus dem Nationalpark heraustreten sind wir wie benommen. Begeistert von dem, was wir in den zurückliegenden 72 Stunden erlebt haben. Und dankbar, direkt „vor der eigenen Haustür“ und mitten in Europa ein so wunderbares Stück Natur erleben zu dürfen.
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