Eine Arber-Überschreitung
Wen es im Bayerischen Wald zu Gipfel-Superlativen drängt, für den gibt es keinen Weg vorbei am Großen Arber. Mit 1.456 m ist er der König des Bayerischen Walds. Auf bestens ausgeschilderten Wegen ist er aus allen Himmelrichtungen zu erreichen. – Oder eben auch zu überschreiten.
„So, den Schuft haben wir erledigt“ sollen die Worte von Edmund Hillary gewesen sein, nachdem er einst mit Sherpa Tenzing Norgay vom Mount Everest ins Basislager zurückkehrte. Und vielleicht sind es auch die Gedanken manch modernen Mittelgebirgs-Gipfel-Seligen, wenn er wieder vom Arber gestiegen ist. Obwohl „erledigt“ oder gar „bezwungen“ natürlich so gar nicht mehr zum heutigen Verständnis von Bergerfahrung passen will. Dann doch lieber Genuss …
Genussvoll geht’s bereits in Bodenmais los. Bei Sonnenschein steigen wir aus dem Zug. Gegenüber des kleinen Bahnhofs zeigt uns ein Wegweiser an, wo entlang es zum Arber geht. Oder soll’s statt Wander- am Morgen doch schon Biergenuss sein? – Möglich wär’s, uns wird’s „Bier in alle Richtungen“ versprochen.
Wir verschieben das Bier auf später und entscheiden uns für’s Loslaufen. Bis zum Waldrand sind es nur wenige Minuten. In den Gärten entdecken wir viele alte Obstbäume, die jetzt – Anfang Mai – in prächtigster Blüte stehen. Ein Einheimischer kehrt emsig ein paar Sandkörner vor seiner Haustür weg. Ansonsten ist der Ort an diesem Morgen recht verschlafen.
Ruhig geht es auch im Wald weiter, einzig unterbrochen vom leisen Glucksen und sanften Rauschen des Riesbachs. Weiter oben wollen wir die Rieslochfälle sehen, die – wieder so ein Superlativ – die höchsten Wasserfälle des Bayerischen Walds sind. Doch einer muss es ja sein.
Allmählich wird es schluchtartiger. Immer wieder bleiben wir stehen, denn bereits auf den ersten Metern unseres Wegs tun sich immer wieder schöne, wilde Ansichten auf. Verwunderlich ist das nicht, denn das Riesloch wurde bereits 1939 zum Naturschutzgebiet erklärt. Seither finden abgesehen von Maßnahmen zur Wegesicherung oder zum Schutz des angrenzenden Wirtschaftswaldes keine forstlichen Eingriffe statt. Das gibt der Natur etwas Märchenhaftes.
Hinter den Rieslochfällen geht es nochmals eine Stunde, immer sanft ansteigend, über schmale Pfade oder Forstwege hinauf, bis wir die Chamer Hütte und wenige Minuten später den Kleinen Arber erreicht haben. Der Wolkendunst, der uns die letzte Stunde begleitet und umgeben hat, lichtet sich genau im richtigen Moment und wir können den Blick zumindest ein wenig schweifen lassen. Wir genießen unsere Gipfel-Pause.
Zum Kleinen Arber verläuft sich heute kaum jemand. – Anders sieht das am Großen Arber aus, das wird schon auf dem Hinweg klar. Plötzlich Wanderer und Mountainbiker überall. Jeder will eben dem König des Bayerischen Waldes mal auf’s Haupt steigen.
Genau genommen hat der Große Arber ja vier Häupter. So fällt auch der Aufenthalt auf dem Gipfelplateau ein wenig länger aus: (Wahrscheinlich nicht nur) Mein Favorit ist der Bodenmaiser Riegel – auch „Richard-Wagner-Kopf“ genannt. Daneben gibt es den Kleinen Seeriegel, den Großen Seeriegel und eben den Hauptgipfel samt Gipfelkreuz.
Direkt neben dem Hauptgipfel erinnern zwei Radome daran, dass wir uns ganz in der Nähe des ehemaligen Eisernen Vorhangs bewegen: Die Grenze zu Tschechien ist knapp fünf Kilometer entfernt. Anfang der 1980er Jahre wurde mit den beiden Radarkuppeln in den Luftraum des damaligen Ostblocks gelauscht, heute dienen sie der Bundeswehr zur Überwachung des hiesigen Flugverkehrs.
Wir steigen gegen Süd-Ost vom Arber ab. Wieder über zumeist kleine Wege und schmale Pfade. Erst weiter unten wechseln wir auf einen nun breiter werdenden Forstweg, der uns zum Großen Arbersee bringt. Dort tummeln sich Auto- und Motorradfahrer, Busse spucken ihre Touristenladungen aus. Auch wir lassen ein paar Minuten unsere Seele und Beine bei dem schönen Anblick ein wenig am Seeufer baumeln: Der Karsee ist ein eiszeitliches Überbleibsel, eingebettet in einem Talkessel, hübsch anzusehen und heute eines der beliebtesten Ausflugsziele im Bayerischen Wald. Als eine nächste Gruppe für einen Foto-Stopp in unsere Richtung losstürmt, ziehen wir weiter.
Gut eine Stunde liegt noch vor uns. Über eine kleine Forststraße geht es Richtung Bayerisch-Eisenstein. Der Ort liegt unmittelbar an der deutsch-tschechischen Grenze und wartet mit einer Besonderheit auf: Direkt auf der Grenze befindet sich der Bahnhof.
Das Gebäude ist 110 Meter lang. Ein Granitriegel mit einem repräsentativen Empfangssaal in der Mitte. Hüben wie drüben ebenso schöne Wartesäle, ebenfalls spiegelgleich bilden vierstöckige Gebäudeköpfe den imposanten Abschluss der vor wenigen Jahren komplett sanierten Anlage. Heute erinnern nur noch kleine Kacheln drin und ein Strich draußen an den ehemaligen Eisernen Vorhang, der hier mit seiner drückenden Schwere mitten durch das Gebäude wie das Bahnhofsgelände gezogen war.
Es ist der 1. Mai 2014. Wir stolpern in ein kleines Grenzfest hinein; bestellen zwei „pivo“. So lange es am Ausschank dauert, unsere Becher mit dem Gerstensaft zu füllen, so schnell werden diese auch wieder gelehrt sein: Wir stoßen an auf unsere Wanderung. Und auf unser gemeinsames Europa. Genau zehn Jahre zuvor war Tschechien gemeinsam mit neun anderen Ländern der EU beigetreten. – Na zdraví! Zum Wohl!
Reisepraktisches
Zur An- und Abreise für die beschriebene Arber-Überschreitung lässt sich hervorragend die Bahn nutzen: Von Zwiesel fährt man morgens mit der Waldbahn nach Bodenmais. Am Abend geht es von Bayerisch-Eisenstein zurück nach Zwiesel. Alternativ ist Bayerisch-Eisenstein auch der Ausgangspunkt für eine anschließende Nationalparkdurchquerung.
Wer in einer der 15 Nationalpark-Gemeinden als Gast übernachtet, kommt in den Genuss der GUTi-Card. Diese gilt unter anderem als Frei-Fahrtschein. Selbst im Winter-Halbjahr (das bis Mitte Mai geht) kommt man in der Nationalpark- und Naturparkregion Bayerischen Wald sehr gut voran.