Tatort Sellrain: Ein Alpiner Psychotrip?
Mitten in der Nacht schrecke ich hoch. Es ist stockdunkel. Meine Augenlider sind schwer. Ich will weiterschlafen. Doch meine Gedanken kreisen um den Sellrainer 24er: Tags zuvor hatte ich mich angemeldet. In Kürze soll ich also 24 Stunden unterwegs sein, um die Berge rund um das Sellraintal zu durchqueren. Auf einer Strecke von 42 Kilometern und 3.000 Höhenmetern im Aufstieg.
Ich habe großen Respekt: Vor der Dauer. Vor den Höhenmetern. Vor der Streckenlänge. – In genau dieser Reihenfolge. Vom kleinsten Übel angefangen: 42 Kilometer bin ich noch nie am Stück gelaufen. Mehrmals waren es immerhin fast soviel. Auch 3.000 Höhenmeter liegen üppig über meinem bisherigen maximalen Tagespensum. Doch etwas die Zähne zusammenbeißen und es müsste machbar sein. Aber 24 Stunden??? Ich stehe gerne zeitig auf. Doch ich brauche meinen Schlaf. Ohne diesen bin ich aufgeschmissen.
Ich zweifle an der Sinnhaftigkeit meiner Teilnahme beim Sellrainer 24er. Und schlafe erschöpft ein.
Das läufst Du doch im Schlaf!
Morgens um fünf. Auf 1.300m. Im Wald, immer leicht bergauf. Ringsum sind die meisten Gespräche verebbt. Nur das Klack-Klack der Stöcke. In den sich überlagernden Lichtkegeln unserer Stirnlampen ist der Weg ausreichend ausgeleuchtet. Ich erkenne die Äste, die hier und da in den Pfad ragen und kann ihnen ausweichen. Genauso gut erkennbar: Die Stellen, an denen der Weg eben dahin läuft. Hier könnte ich doch …
Einfach mal diesem Verlangen nachgeben, die Augen zu schließen …! Für ein, zwei Schritte. Meine Augenlider sind schwer. Sehr schwer. Wird das nun tatsächlich so eine Art „Alpiner Psychotrip„? Eine Mütze Schlaf wäre jetzt wirklich nicht verkehrt. Doch ich gehe weiter.
Seit elf Stunden tue ich – abgesehen von der Rast an den Verpflegungsstationen – nichts anderes. Gemeinsam mit gut 80 Anderen: Abends um sechs waren wir aufgebrochen in St. Sigmund. Mit knapp 200 Einwohnern ist St. Sigmund die kleinste der drei Gemeinden im Sellraintal. Eine halbe Auto-Stunde von Innsbruck entfernt. Gefühlt ist das Treiben „draußen“, außerhalb des Tals, jedoch viel weiter weg.
Lang und spitz ragt der Kirchturm von St. Sigmund aus dem Ort heraus. Auch von oben, vom Sellrainer Höhenweg, hielt er nach dem Start einige Zeit als Orientierungspunkt her. Bis die Dämmerung erst das Tal und dann auch uns verschluckte. Viertel vor zehn. – Wie auf Kommando wurden die meisten Stirnlampen angeschaltet. Einem langen Glühwurm gleich gingen wir weiter auf dem schmalen Pfad. Einer hinter dem anderen.
Ein beeindruckender Moment: Wir am östlichsten Zipfel unserer Tour. Freier Blick. Und weit unter uns das hell erleuchtete Innsbruck. Danach: Abgesehen von unserer Glühwurm-Marsch – wieder viel Dunkelheit. Bis gegen halb sechs.
Wunderwaffe gegen Morgenmüdigkeit
Und es ward Licht! Der Waldweg weitet sich wieder. Statt nur schemenhafter Umrisse im Schein unserer Stirnlampen sehen wir nun das Lüsener Tal im Morgengrauen vor uns liegen. Ich blinzele ausgiebig, meine Augen entspannen sich. Die vorhergegangene halbstündige Müdigkeit – von einer Minute auf die andere: wie weggeblasen.
Auf der anderen Talseite kommt Praxmar in Sicht. Ein kleiner Weiler, darin der Alpengasthof. Der soll unsere nächste, nunmehr schon dritte, Verpflegungsstation sein. Doch wir sind zu zeitig. Die Lösung, ganz pragmatisch – schließlich sind wir auf einer 24-Stunden-Wanderung: Statt auf direktem Weg zum Alpengasthof Praxmar zu gehen, laufen wir zunächst noch Richtung Tal-Ende und über eine Brücke auf die andere Talseite. Vorbei an einigen Stationen des Naturerlebniswegs direkt an den Frühstückstisch! Den einen oder anderen Kilometer können wir uns so zum Schluss noch zu unserer Marathonstrecke dazuschreiben.
So eine Pause kann noch so schön sein – die ersten Schritte danach sind es meistens nicht. Diese Tour ist so eine berühmte Ausnahme von der Regel. Wahrscheinlich ist es die positive Gruppendynamik, die alles leichter erscheinen lässt. Die Stunden vergehen viel schneller als gewohnt. Auch Mitwanderer beschreiben mir dieses gleiche Gefühl später.
Das Angenehme: Hier geht es nicht ums Kräftemessen, um Rekorde und Bestzeiten. Sondern einfach um ein genussvolles Abenteuer. Die Gruppe bleibt zusammen. Immer vornweg: Bergführer Thomas, der in seiner Heimat jeden noch so kleinen Pfad kennt.
Klar, dass bei einer derart entspannten Veranstaltungs-Philosophie auch die Zeit ist, den einen oder anderen Touren-Gipfel erklärt zu bekommen. Oder manche Pflanze. Auch, um mehr über den Lauf des Wassers und das Leben im Sellrain zu erfahren.
Die letzten einhundert Höhenmeter. Es geht vom Satteljoch zur Lampsenspitze. Mit 2.875m ist dies der höchste Punkt der Tour. Natürlich frage ich mich insgeheim, was das eigentlich bringen soll, denn große Wolken haben sich schon vor einiger Zeit am Berg festgeklammert. Genauso gut hätte ich mit einem Teil der Gruppe direkt vom Joch absteigen können. Dann wiederum: Jetzt einfach den Gipfel rechts liegen lassen? Nee! Und wie zur Belohnung schiebt der Wind die Wolken weg. Wir erhaschen einen Blick auf die gegenüberliegenden Berge und auf das Tal.
Nach dem Essen sollst Du ruh’n …
Später, auf der Pforzheimer Hütte, warten Unmengen von Spinat- und Speckknödeln auf uns. Und draußen zeigt sich für eine Weile sogar der blaue Himmel. Der ideale Zeitpunkt, um eine von zwei Pausen-Strategien auszutesten: Der eine setzt flugs seine Sonnenbrille auf und wird an der sonnenbeschienen Wand plötzlich für einen Moment verdächtig ruhig. Die andere kann einfach nicht genug bekommen; sie hüpft abermals los, um von weiter oben ein besonders schönes Bild von der Hütte zu machen. Ganz andere wiederum Slacklinen oder Ratschen. Ja, all das gehört zu einer gelungenen Wanderung!
Und … wer ist sonst „so verrückt und verzichtet auf seinen Schlaf?“
Diese Frage wurde mir kurz vor der Wanderung gestellt. Mir selbst war sie natürlich auch schon durch den Kopf gegangen: Eher Männer oder Frauen? Ältere oder Jüngere? Einheimische oder Gäste?
Es ist ein guter Querschnitt: Viele irgendwo um die 40. Einige Jüngere, die Ältesten wohl in ihren 60ern. Überraschend hoch der Frauenanteil, sicher gut die Hälfte. Zahlreiche Einheimische, die an dieser außergewöhnlichen Tour mal neue Grenzen testen wollen; daneben Gäste aus anderen österreichischen Regionen wie Linz und Wien, ein paar sind auch aus Deutschland angereist.
Gefühlt (und tatsächlich) haben wir außerdem die halbe Bergrettung der drei Sellrain-Gemeinden und einen Arzt im Schlepptau. Oder besser: sie uns. – 16 Mal personifizierte alpine Kompetenz. Ausgestattet mit allem, was es im Fall der Fälle braucht: Notfall-Rucksack, Wolldecke, Trage und sicher mit einigen anderen Dingen, die wir gar nicht gesehen haben. Mal ganz abgesehen vom ganzen Berg-Know-how. Besser aufgehoben kann man sich auf einem alpinen 24er nicht fühlen.
Am Ende unseres 24-Stunden-Abenteuers fallen Wörter wie „Respekt“, „Bewunderung“ und „Leidensfähigkeit“. In erster Linie von den Männern. Adressiert an die Frauen. Die wiederum wollen die ganze Aufregung nicht so recht verstehen. Denn klar ist: Jeder ist die gleiche Strecke gelaufen. Also, wenn schon, dann basiert der Respekt auf Gegenseitigkeit. Auch den Teilnehmern gegenüber, die diesen außergewöhnlichen Berg-Trip wagten, aber vorzeitig abbrechen mussten.
„B’sonders schwer wars eigentlich net“
Richtig, dies ist die wohl bekannteste der sieben Bergsteigerlügen. Nicht nur Berg-Neulinge seien gewarnt, sie für allzu bare Münze zu nehmen.
Dennoch ließen sich die 24 Stunden auch mit einem Augenzwinkern so zusammenfassen: Eigentlich sind wir den ganzen Tag nur von Essen zu Essen gelaufen. Ganz „nebenbei“ war diese Tour eben etwas länger als gewöhnlich. Uns sie war vor allem eins: Pretty darn lässig.
Die Veranstalter – der St. Sigmunder Bürgermeister Karl Kapferer & der Bergführer Thomas Haider – sowie der Alpengasthof Praxmar haben mich zum Sellrainer 24er und zur anschließenden Übernachtung eingeladen.
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Ich würde selbst mal gerne bei einem alpinen 24-Stunden-Marsch mitmachen. – Was muss ich wissen?
Ausrüstung
(essentiell)
- knöchelhohe Bergschuhe
- 25-30-Liter-Rucksack inkl. Regenschutz
- Bergbekleidung (inkl. dünner Mütze & dünner Handschuhe)
- Regenbekleidung
- Stirnlampe
- Wasserflasche
- Snack (Müsliriegel/Trockenobst)
- kleines Erste-Hilfe-Set
(empfehlenswert)
- Teleskopstöcke
- T-Shirt zum Wechseln
- Zahnbürste & Zahncreme (okay, fällt schon in die Kategorie „luxuriös“)
Voraussetzung
- entsprechende Kondition (muss nicht zwingend vom Wandern kommen)
- Trittsicherheit
Wo und wann?
Über den Sellrainer 24er informierst Du Dich am besten unter www.sellraintal.at.
Es gibt im deutschsprachigen Raum etwa eine Handvoll Alternativen für alpine 24-Stunden-Märsche, unter anderem im Karwendel, im Tannheimer Tal, in Kitzbühel und in Südtirol. Teils veranstaltet von Tourismusämtern, teils kommerziell organisiert. Große (!) Unterschiede in der zugelassenen Teilnehmerzahl; auch die Höhenmeter und Länge der Strecke werden eine Rolle spielen bei Deiner Auswahl. Meist ab Mitte Juni bis Mitte September.
Alternativ findest Du nicht-alpine Varianten in vielen Regionen Deutschlands. Übrigens: Das heißt nicht zwingend, dass diese weniger Höhenmeter haben …
Sonst noch was?
Ja! – Sei verantwortungsbewusst und vermeide das Autofahren weitestgehend nach solch einem Abenteuer. Quartier Dich stattdessen bei einem Gastgeber vor Ort ein. Das ist bequemer und Du hast die Chance auf persönliche Kontakte, die Dir die Region noch näher bringen.