München im Schnee
Manche Muster offenbaren sich erst mit der Zeit, manche Rituale erst mit den Jahren. Das wird mir einmal mehr bewusst, je länger ich in München lebe.
Um es gleich zu sagen: nein, das mit mir und München war ganz gewiss keine Liebe auf den ersten Blick. „Ich gehe überall hin, nur nicht nach München“, ließ ich nach dem Studium selbstbewusst verlauten. Nur, um dann doch bald einen Umschlag mit einer Münchner Agentur-Adresse zu beschriften und ihn samt Bewerbungsmappe in den Schlund eines gelben Postkastens zu bugsieren. Es kam, wie es kommen musste … im Herbst 2001 fand ich mich in der Stadt ein.
Zu Hause in München
Jahre später pflege ich noch immer ein gewisses ambivalentes Verhältnis zur Stadt. Doch München, Oberbayern, ist mir zur Heimat geworden. Hier arbeite ich, hier bin ich zu Hause. Hier weiß ich, welche Freunde und Nachbarn mir mit einem offenen Ohr oder mit einer hilfreichen Tat zur Seite stehen. Hier ist das Kino um die Ecke phasenweise mein zweites Wohnzimmer und in der Buchhandlung meines Vertrauens gibts Lesestoff für mindestens drei weitere Leben. Hier weiß ich, wo die Bordsteine auf dem Radlweg in die Innenstadt gescheit abgesenkt sind, und wo ich der Felge zuliebe besser bremse. Heimat auch, denn an den Themen hier in München und Bayern reibe ich mich.
Mein Hausberg in der Stadt
Mit einem Umzug wurde der Olympiaberg zu meinem Hausberg in der Stadt. Zu einem Ort, an den ich gerne gehe, wenn ich im Büro und im Kopf nicht mehr weiterkomme. Oder bei Föhnwetter, um die wie von magischer Hand an die Stadt herangeschobenen Alpen zu bewundern. Der sommerliche Sonnenaufgang auf dem Olympiaberg beeindruckt mich wenig, denn nach Osten wirkt die Stadt sehr verbaut, meine Augen finden keinen landschaftlichen Anker. Dafür kann der Sonnenuntergang um so entspannender sein – ganz egal, zu welcher Jahreszeit.
Wo an gewöhnlichen Tagen vor allem Jogger und Hundehalter den geographischen Höhepunkt ihrer Olympia-Runde erreichen, versammeln sich an Vollmondabenden oder Super-Irgendwas-Nächten die Fotografen mit ihren Teleobjektiven.
Winter am Hausberg
Und dann sind da noch diese ganz besonderen Wintertage: So recht weiß man nie, wann es soweit sein würde. Schon im Dezember? Erst zu Beginn des Jahres, im Hochwinter? Oder auch mal ganz besonders spät, wenn die Knospen schon längst ausgetrieben haben? Plötzlich ist aber klar: Über Nacht würde die Kälte bis in die Stadt hineingekrochen kommen und der Himmel würde sich in einem Flockengestöber über den Häusern, Straßen und Parks entladen.
Am Morgen – spätestens aber in der Mittagspause – nach so einer Nacht gibt es kein Halten mehr für mich: Während vor dem Fenster mitunter noch die letzten Flocken auf die dicke Schneeschicht fallen, schlüpfe ich in die mit Fell gefütterten Wintersstiefel, packe mich in Jacke und Schal, streife die Mütze und die Handschuhe über und stapfe ins Weiß. Ein paar Meter durch die Nachbarschaft, dann hinüber in den Olympiapark.
Der Klang von fast Vergessenem
Der Schnee dämpft die Geräusche der sonst so lauten Stadt. An Stelle urbanen Lärms tritt der Klang von etwas über die Sommer und über die Jahre fast Vergessenem: Ich genieße das Knirschen des Schnees bei jedem meiner Tritte. Dieses Geräusch, das an längst geschlagene Schneeballschlachten und an längst geschmolzene Schneemänner erinnert.
An diesen besonderen Wintertagen ist Schnee für mich immer auch ein Augenschmaus: So, wie der Schnee die Kiefern unter sich vergräbt und sie noch stuckiger als sonst erscheinen lässt, so hebt er die filigranen Strukturen der Sträucher und Laubbäume erst richtig hervor, wenn er sich so dick wie leicht auf den Verästelungen niederlässt.
Käme ich aus den Bergen, würde sich der Faszination sicher schnell auch die besondere Obacht beimischen. Denn ein Zuviel an Schnee birgt dort mitunter Gefahren; weit über das normale Ungemach des ständigen Schneeräumers und des nur langsam Vorankommens hinaus.
So aber sind diese besonderen Wintertage mitten in der Stadt für mich vor allem eins: Die Erinnerung an die Kindheit. Und sie sind Rituale.
Auf den letzten Tastenanschlag nehme ich mit diesem Beitrag an der Blogparade von Lutz teil, die heute nach Verlängerung wohl endgültig ausläuft: Als Münchner Ironblogger – und Ironschwimmer – rief er vor einiger Zeit zu einer Blogparade auf, bei der er nach kleinen Ritualen fragte. Ich tat mich lange schwer mit diesem Stichwort. Zwar kommt morgens, wenn ich in meinen Arbeitstag starte, noch regelmäßig eine Tasse Earl Grey Tee mit an den Schreibtisch. Aber in einem Outdoor-Blog wirkt diese Tatsache eher nebensächlich und zeigt einzig, dass zu einem mitunter abwechslungsreichen Outdoor-Leben auch ein ganz profanes Leben und Arbeiten in geschlossenen Räumen gehört.
Beim Blogparaden-Stichwort „Rituale“ dachte ich außerdem lange Zeit erst mal nur an Cees Nooteboom, dessen gleichnamige Erzählung mit dem einprägsamen Satz beginnt: „An dem Tag, als Inni Wintrop Selbstmord beging, standen die Philips-Aktien auf 149,60.“ Und der bereits ältere ARD-Zweiteiler „Der kalte Himmel“, der in der Holledau der 1960er Jahre die Geschichte einer Hopfenbauer-Familie und ihres sechsjährigen Sohnes Felix erzählt, kam mir in den Sinn. Erst der Blogparaden-Beitrag von Ironblogger-Kollegin Tanja Praske brachte mich darauf, zum Thema „Rituale“ einfach über die Strukturen des unmittelbaren Alltags hinauszudenken und Muster der Jahre vom Schnee freizuschaufeln.
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