Am Ort des Terrors
Diese Lichtung sollte es so nicht geben müssen, dröhnt es still in meinem Kopf.
Ein Septembertag wie aus dem Bilderbuch: das Blau des Himmels strahlt mit dem Weiß der Sonne um die Wette. Ich stehe auf einer kleinen Waldlichtung. Ringsherum gut 70 Jahre alte Kiefern. Hin und wieder weht es das leise Rauschen eines vorbeifahrenden Sattelschleppers von der naheliegenden, neu asphaltierten Landstraße hinüber. Ansonsten nur hin und wieder ein kaum wahrnehmbares Lüftchen, das mittags noch davon erzählt, wie kühl es nachts bereits war.
Ich schaue über die Wiese und würde die klare Herbstluft gerne tief einatmen. Doch etwas hindert mich, engt mir die Kehle ein, dreht mir den Magen um, drückt mit Gewalt auf meinen Schädel. Ein Gedanke versucht sich in meinem Kopf zu formulieren, nimmt Gestalt an: Diese Lichtung sollte es nicht geben. Oder präziser: Diese Lichtung sollte es so nicht geben müssen.
Ich bin in Treblinka. An jenem Ort, an dem die Nationalsozialisten das Vernichtungslager Treblinka II errichteten und wo nach Schätzungen fast 900.000 Menschen ermordet wurden.
Aktion Reinhardt
Treblinka, 80 Kilometer nordöstlich von Warschau gelegen, wurde gemeinsam mit den Lagern Belzec und Sobidor an der ukrainischen beziehungsweise weißrussischen Grenze für die „Aktion Reinhardt“ errichtet. Unter diesem Tarnnamen radierten die Nazis systematisch jüdisches Leben aus: etwa 1,8 Millionen Juden, vor allem aus Polen, kamen in den drei Lagern um, wahrscheinlich mehr. So genau lässt sich das nicht sagen, denn die Täter verwischten nahezu alle Spuren.
Die „Aktion Reinhardt“ zielte auf die möglichst vollständige Ermordung der Juden in den von Deutschland besetzten polnischen Gebiete. Nachdem in den Lagern Belzec und Sobidor die Vernichtungsmaschinerie auf größtmögliche Effizient erprobt worden war, entwickelte sich das im Sommer 1942 errichtete Lager Treblinka II zum schlimmsten und „perfektesten“ der drei Vernichtungslager:
Zu dieser Zeit waren allein im Warschauer Ghetto 400.000 Juden eingepfercht. Am 23. Juli 1942 begannen die Massendeportationen aus der polnischen Hauptstadt. Die Menschen wurden straßenweise am Warschauer Umschlagplatz zusammengetrieben und in Güterwagons nach Treblinka abtransportiert. Später kamen Transporte aus vielen anderen polnischen Ghettos hinzu.
Den in Treblinka Ankommenden wurde erklärt, dass sie sich in einem „Durchgangslager“ befänden. Sie müssten sich duschen, die Kleidung desinfizieren und würden dann in ein Arbeitslager überstellt. Tatsächlich existierte etwa zwei Kilometer weiter mit Treblinka I ein Arbeitslager. Doch für den Bau von Treblinka II gab es von Beginn an nur einen einzigen Beweggrund: den Massenmord an den Juden.
Am improvisierten Bahnsteig mussten Frauen nach links in eine Baracke gehen, Männer nach rechts. Sie hatten ihr Gepäck abzugeben, sich auszuziehen. Sodann trieben sie die SS-Männer durch einen „Schlauch“ in einen vermeintlichen Duschraum. Die Tür wurde verriegelt und Kohlenmonoxid, Abgase aus einem Panzermotor, eingeleitet. Keine halbe Stunde dauerte es, bis so auch die letzten Stimmen in dem Holzgebäude verstummt waren.
Ein aus jüdischen Männern bestehendes Arbeitskommando musste schleunigst die ineinander verkeilte Menschenmasse aus der Gaskammer wuchten, Goldzähne entfernen und die Körper in Massengräber werfen. Die Körper von Männern und Frauen. Von Kindern. Von Babies. Von Neugeborenen. Nur, um dann die Gaskammer für die nächste Vernichtung zu säubern. Als Zeugen des Massenmords wurden die sogenannten Arbeitsjuden ebenfalls in regelmäßigen Abständen von der SS getötet und ersetzt.
Allein aus dem Warschauer Ghetto sind tägliche Treblinka-Transporte mit bis zu mehr als 10.000 Menschen dokumentiert. Außerdem wurden fast 30.000 nicht-polnische Juden sowie tausende Roma und Sinti hier vergast.
Verwischte Spuren
Als die Deutschen im Februar 1943 die Schlacht von Stalingrad verloren, kam die Wende. Die Nazis hatten nun Angst, dass die weit im Osten liegenden Vernichtungslager entdeckt werden könnten und versuchten, sämtliche Spuren zu verwischen. In Treblinka ließen sie die Arbeitsjuden die Leichen exhumieren und auf riesigen Scheiterhaufen verbrennen, das Feuer loderte monatelang. Tag und Nacht.
Bevor das Lager vollends liquidiert und aus den Annalen der Nationalsozialisten getilgt werden konnte, gelang den Arbeitsjuden im August 1943 eine Revolte. Die Nazis ermordeten kurz darauf alle verbliebenen Gefangenen; sie rissen das Lager ab, pflügten den Boden um und errichteten zur Tarnung ein Bauernhaus.
Wäre es nach dem Willen der Nazis gegangen, hätte die Öffentlichkeit nie von Treblinka erfahren. Und auch nie von den Toten in Sobidor und Belzec. Doch aus allen drei Lagern konnten einige wenige Häftlinge entkommen. Aus dem Vernichtungslager Treblinka waren es gut 60 Menschen, die den Zweiten Weltkrieg überlebt haben, insgesamt gab es knapp 150 Überlebende der Aktion-Reinhardt-Lager.
2016 ist auch der letzte von ihnen, der Treblinka-Zeitzeuge Samuel Willenberg, gestorben.
Europäische Erinnerung
In der europäischen Erinnerungskultur ist Auschwitz Symbol für die Ermordung der Juden. Allein die Zahlen sprechen für sich: 2018 waren mehr als zwei Millionen Besucher dort, mehr als 400.000 Fotos finden sich auf Instagram unter dem Hashtag #Auschwitz.
Dahingegen ist Treblinka nahezu verwaist. 1964 wurde auf der Waldlichtung eine Gedenkstätte eingerichtet; erst seit ein paar Jahren gibt es überhaupt einen kleinen Museumsraum. Aktuell kommen jährlich etwa 60.000 Menschen nach Treblinka; durchschnittlich kaum 200 pro Tag. Auf Instagram gibt es gerade mal eintausend mit #Treblinka versehene Beiträge.
So ist Treblinka ein stiller Ort. Mit meiner Freundin und mit unserem polnischen Begleiter sind wir an diesem Herbstnachmittag nahezu allein auf der Lichtung. Wir trennen uns für eine Weile; es ist, als müsste jeder für sich selbst diesen unbegreiflichen Ort begreifen.
Ich gehe langsam über den gepflasterten Weg von der symbolischen Eisenbahntrasse bis zu dem zentralen Monument, das an der Stelle errichtet ist, an dem die Gaskammern standen. Wenig mehr als einhundert Meter ist dieser Weg lang.
Die letzten einhundert Meter im Leben von 900.000 Menschen.
Ich zögere, an diesem schrecklichen Ort zu fotografieren. Dann wieder – gerade in Zeiten, in denen hier wie da nationalpopulistische Wertesysteme in ganz Europa auf ihre Salonfähigkeit getestet werden – scheint das Erzählen und Aufzeigen der gemeinsamen Geschichte wichtiger denn je.
Schon auf den letzten Wegkilometern nach Treblinka kündigte sich das Gefühl, das Wissen an, dass dieser Besuch einiges abverlangen wird. Als ich vor dem Monument stehe und die Kamera herunternehme ist es, als wenn ein letztes, dünnes Schutzschild bricht. All das, was ich schon in den Wochen vor meinem Besuch in Treblinka gelesen habe, scheint an dem Ort, an dem es nichts zu sehen gibt, auf mich einzustürzen. Nüchterne Textfragmente da, erdrückende Vorstellungen dort. Die warme Herbstsonne trocknet meine Tränen.
Zum Weiterlesen
Einen kurzen Treblinka-Überblick gibt ein Artikel des Deutschen Historischen Museums.
In den vergangenen Jahren und Jahrzehnten sind hin und wieder einzelne, ausführliche Beiträge über das Vernichtungslager Treblinka erschienen, die teils noch online zu finden sind; u.a. im Deutschlandfunk und in Die Zeit.
Unter Historikern setzt sich inzwischen die Einschätzung durch, dass „eine angemessene Sicht auf den Holocaust die Operation Reinhard[t], den Mord an den polnischen Juden im Jahre 1942, in den Mittelpunkt der Geschichte rücken [müsste]“, wie Timothy Snider im Artikel „Der Holocaust: die ausgeblendete Realität“ schreibt und weiter erklärt: „Die polnischen Juden bildeten die weltweit größte jüdische Gemeinschaft, und Warschau war die wichtigste jüdische Stadt.“
Das derzeit aktuellste Buch zur Aktion Reinhardt stammt von dem Historiker Stephan Lehnstaedt: „Der Kern des Holocaust“ beschreibt nüchtern den Vernichtungsprozess und konfrontiert seine Leserinnen immer wieder mit Details der entsetzlichen Geschehnisse.
Außerdem
Erste Adresse, um in Warschau nähere Einblicke in die jüdische Kulturgeschichte und auch die Zeit des Zweiten Weltkriegs zu erhalten, ist das Museum der Geschichte der polnischen Juden (POLIN).
… und zum Schauen: „Der Pianist“ – die von Roman Polanski verfilmte Autobiographie des angesehenen Warschauer Pianisten Władysław Szpilman, der Treblinka knapp entkam.