Oder: Genussradeln im Pfaffenwinkel
Mich fröstelt’s, kaum, dass wir am Weilheimer Bahnhof aus der Regionalbahn gestiegen und ein paar Meter auf den Rädern Richtung Innenstadt gerollt sind. Es ist Anfang Mai und die Sache mit den Sachen ist so eine Sache. Zu dick angezogen oder zu dünn angezogen – die beiden Zustände, zwischen denen man sich dieser Tage bewegt.
Abhilfe verschafft fürs Erste das baldige Absteigen. Fußgängerzone. Denn ganz nebenbei ist so der leichte Fahrtwind genommen, unmittelbar steigt die gefühlte Temperatur. Wir schieben die Räder vorbei an den farbenfrohen Häuserfronten. In Lindgrün und in Pfirsichtönen, gelb und hellblau präsentieren sich die drei- und viergeschossigen bürgerlichen Wohnhäuser. Trotz aller Farben und manch Verzierungen wirken sie auf mich im Ensemble schlicht und geradlinig, mitten im vielerorts opulent ausstaffierten Pfaffenwinkel mit all seinen Klöstern und Kirchen.
„Kaffee?“ – Ja, unbedingt, das eigentliche Losradeln noch ein wenig zu verschieben, kann schließlich viel bewirken! Vielleicht schafft es die Sonne bis dahin auch durch die Wolken. Der Weilheimer Marienplatz ist bewimpelt und die abschließenden, morgendlichen Vorbereitungen für ein Stadtfest laufen an. Um die Ecke, auf dem Kirchplatz stellen wir die Räder ab und finden im Café Rosalie einen freien Tisch. Dessen Reserviert-Schildchen verrät, dass wir noch Zeit für einen Cappuccino haben, bis die Frühstücksgäste kommen.
Entlang der Ammer
Die Ammer führt viel Wasser an diesem Morgen. Von ihrer Quelle in den Wiesen des Ettaler Weidmoos hat sich der Fluss schon sechzig Kilometer um die Berge der Ammergauer Alpen und hinein ins Voralpenland geschlängelt. Genügend Strecke, um auch den vielen Niederschlag aufzunehmen, den die zurückliegenden Wochen brachten. Bei niedrigerem Wasserstand kann man hier auch schon mal den einen oder anderen Fliegenfischer beobachten, wie er im Fluss stehend sein Anglerglück versucht.
Dann ist die Sonne da! Der Himmel verändert sich nun im Minutentakt. Während sich in der Ferne schwere, dunkle und regenverheißende Wolken auftürmen, brechen sich um uns herum Sonnenstrahlen ihren Weg. Das Rapsfeld, das schon zuvor leuchtete, strahlt jetzt regelrecht.
Es sind solche Eindrücke, die derartige Wetterlagen für mich so interessant machen. Diese kurzen Augenblicke, die sich an weniger wechselhaften Tagen schlichtweg nicht ergeben. Irgendwann meint man zwar ein Gefühl dafür zu haben, wann wo was passieren könnte. Doch letztlich ist’s weder wirklich vorhersehbar, noch tatsächlich kalkulierbar.
Wir entfernen uns ein wenig von der Ammer, folgen nun den Bahngleisen nach Polling. Das Bahnhofsgebäude am Ortsrand ist inzwischen nur noch ein ehemaliges Bahnhofsgebäude.
1879 eröffnet, konnten bis 1984 Einheimische und Gäste in den Zug steigen oder mit ihm nach Polling gelangen. Ende des 19. Jahrhunderts kamen viele europäische und vor allem amerikanische Künstler in das Dorf, das sich rund um das große Kloster organisiert hat. Um die 400 Namen von Malern sind im Gästebuch der Klosterwirtschaft, das damals noch Fremdenbuch hieß, eingetragen. Ob sie alle auch ganz ohne Zug hierher gefunden hätten?
Im Kloster- und Malerdorf Polling
1903 reiste ein anderer erstmals nach Polling: Thomas Mann. Auch besuchte er in den folgenden Jahren immer wieder seine Mutter Julia, die sich im Alter in ein Häuschen neben dem Kloster zurückgezogen hatte. Für den späteren Literatur-Nobelpreisträger war Polling das reale Vorbild des fiktiven Pfeiffering in seinem Roman „Doktor Faustus“: Im Zentrum der Handlung steht der Musiker und Komponist Adrian Leverkühn, der seine Seele dem Teufel verkaufte, um künstlerische Vollkommenheit zu erlangen.
Die Pollinger Schauplätze, die durch den Roman weit über das Oberland hinaus bekannt wurden, spazieren wir auf dem etwa fünf Kilometer langen Doktor-Faustus-Weg ab. Vor ein paar Regentropfen suchen wir dabei kurzzeitig Schutz unter den überhängenden Ästen eines hohen Busches. Erst später, wir sitzen schon längst im Klosterwirt und genießen in entspannter Atmosphäre unser Mittagessen, prasselt der Regen kräftig auf die Wiesen und Wege.
Kunst in der Wiese, Café im Bahnhof
Zum „Nachtisch“ gibt es abermals Kunst: nahe Polling, auf einer Wiese an der Ammer, steht seit einigen Jahren die Künstlersäulenhalle Stoa169. Das Dach der offenen Sichtbetonhalle tragen insgesamt 121 Säulen. Eine jede Säule ist knapp vier Meter hoch und höchst individuell von Kreativen aus aller Welt gestaltet. Neben Farbenfrohem steht ein riesiges Streichholz, dann wieder umschließt ein Rettungsring eine Säule oder es ist ein Kajak zu entdecken. In der Mitte eine Spiegelsäule, die ein verwirrendes Spiel mit den Perspektiven zulässt. Was das Ganze zu bedeuten hat, ist der eigenen Interpretation überlassen. Während wir zwischen den Säulen umherwandeln, sitzen ein paar andere Besucher auf den groben Holzbänken, sie genießen die inzwischen wieder zwischen den Wolken hervorlugende Sonne.
Auch bis zu unserem Tagesziel, dem Bahnhof Huglfing, sind es nur wenige Kilometer. In dem Dorf hält der Zug bis heute. Die Wartezeit, bis unsere Bahn kommt, versüßen wir uns im Café Hey Schaffner mit Cappuccino und Apfelkuchen. Dass wir hier nun wiederum längst unter einem schützenden Schleppdach des Bahnhofsgebäudes sitzen, als von jetzt auf gleich der nächste Regenguss beginnt, gehört wohl wiederum zum ungeschriebenen Gesetz dieses Genussradelns.
Gut zu wissen
Weilheim eignet sich hervorragend als Start- oder Zielpunkt von Radausflügen im Pfaffenwinkel. Von München am Wochenende teils im Viertelstundentakt angefahren, auch aus Richtung Augsburg und Garmisch regelmäßig zu erreichen. Zu den nahen Zielen, die sich auf gemütlichen Radlrunden erkunden lassen, gehören auch der Paterzeller Eibenwald sowie die Erdfunkstelle Raisting. Außerdem, für den längeren Atem, führt der Ammer-Amper-Radweg an Weilheim vorbei. Wer mit dem Auto anreist, findet in Bahnhofsnähe einen Parkplatz und kehrt hierher am Ende der entspannten Radtour zurück.
Unterwegs auf den örtlichen Spuren von Thomas Mann (und auch der hierher gereisten Maler) ist der Besuch des Museum für Kunst und Kultur in Polling zu empfehlen. Um es geöffnet vorzufinden (sonntags zwischen 14 und 16 Uhr oder auf vorherige Nachfrage), braucht es etwas Glück oder Radel-Organisation. Alternativ gibt es auch immer wieder einmal Sonderführungen, wie beispielsweise im Rahmen vom Thomas Mann Festival Bad Tölz (das zwischen 14. und 20. Mai 2023 zum zweiten Mal stattfindet).
Die Radltour von Weilheim nach Huglfing ist etwa 15 Kilometer lang. Besonders grün: zunächst am rechten, also östlichen, Ammerufer entlang, an der Brücke der Staatsstraße 2058 nach links und dem Weg nach Polling folgen. Oder noch ein Stück weiter bis zur Stoa169; spätestens dort dann nach Polling. Dem Doktor-Faustus-Weg folgt man zu Fuß – eine hübsche kleine Runde, um sich „Appetit anzulaufen“ für die spätere Einkehr.
Transparenzhinweis: An einer Führung durch das Museum Polling habe ich an anderer Stelle während einer von Bad Tölz und Murnau Tourismus organisierten Pressereise teilgenommen.
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