Zwischen Skiwandern und Skilauf im Val Müstair
Es sei ein Ritual: „Immer, wenn ich nach Hause komme, halte ich am Ofenpass an und laufe zwei Runden ums Auto“, ihre Augen tasten sich dann über die Landschaft, begeistert sich Elisabeth Roth für die Schönheit des Val Müstair.
Elisabeth ist aus Zürich zugezogen und führt die Geschäfte des Hotel Schweizerhof in Santa Maria, einem kleinen Taldorf, das für einige Tage unser spätwinterlicher Rückzugsort ist.
Eleganz der Belle Epoque
Als zur Wende des 20. Jahrhunderts die Straße hinauf zum Umbrailpass gebaut wurde, erschien auch direkt zu dessen Fuße die Zeit für ein modernes wie luxuriöses Hotel gekommen. Das Hotelflair der Belle Epoque wurde in den folgenden Jahrzehnten immer wieder überbaut und neuen Moden angepasst; jetzt versucht Elisabeth, diese ursprüngliche Ausstrahlung wieder Schritt für Schritt freizulegen.
Besonders eindrucksvoll lässt sich die Eleganz vergangener Tage in der ersten Etage erspüren: dort laden die sogenannten Gesellschaftsräume – ein Musikzimmer und eine Bibliothek – ein, jedes andere Vorhaben erst einmal zur Seite zu schieben, sich für eine Weile in die weichen Sesselpolster sinken und die Atmosphäre wirken zu lassen.
Kaum, dass wir das Hotel erreicht hatten, begann es zu schneien. Fünf, zehn, fünfzehn Zentimeter. Und wohl noch mehr. Erst am nächsten Morgen hörte es auf; beim Aufwachen tänzelten draußen vor dem Fenster noch ein paar letzte Flocken durch die Luft, schon beim Frühstück im Jugendstilsaal zeigten sich die ersten Bergspitzen und als wir am Langlaufzentrum Fuldera mit gummigedämpften Klacklauten in unsere Skibindungen klicken, präsentieren sich erste blaue Himmelflecken. Was für ein unverschämtes Glück Anfang März, zum Ende der Saison.
Langlauf im Hochtal
„Nach dem Neuschnee werden wahrscheinlich noch nicht gleich alle Loipen gespurt sein“, gibt uns Andrea, der das Langlaufzentrum betreibt, mit auf den Weg. Kein Problem, eine der doppelrillig angelegten Spuren sollte erst einmal genügen. Schon am Vorabend, als wir nach einem schneeverstöberten Dorfspaziergang ein wenig die Talkarte studiert hatten, war unsere Wahl auf die Talloipe „La vallada“ gefallen.
Der Einstieg in die Loipe liegt in einer Ebene, was den Start leicht und gemütlich macht. Aber erst mal richtig umschauen: Für’s Auge hat das Val Müstair so was wie geographische Idealmaße. Das Hochtal kuschelt sich ganz im Osten, hinter dem Ofenpass, wie ein kleines, ausgestülptes Anhängsel an die restliche Schweiz. Während nach Süden die Gipfel steil in die Höhe ragen, lümmeln sich auf der Talnordseite die schneebedeckten Berghänge einladend in der Sonne.
Von West nach Ost geht es über drei Talstufen von 1.700m in Tschierv bis auf 1.200m nach Müstair hinab. Unsere Skispitzen zeigen derweil nach Westen und also latent bergauf. Wir kurven durch ein Erlenwäldchen, folgen dem Rombach, bis sich vor Tschierv die Landschaft spürbar aufhügelt. Seit 2013 ist das Val Müstair alle zwei Jahre Schauplatz der Tour de Ski, eine Art Schweizer Tour de France für Langläuferinnen und Langläufer.
Eine Kamera im Rucksack scheint immer noch die raffinierteste Art, sich der etwaigen Tempo-Logik beim Skilaufen zu entziehen, immer wieder eher ein Skiwandern daraus werden zu lassen. Vor allem bergan. In regelmäßigen Abständen stoppen wir, gucken durch unsere Sucher, in denen sich mal traditionelle Engadinerhäuser mit ihren mächtigen, Sgraffiti-verzierten Außenwänden in Position bringen; mal die in eine dicke Schneedecke gehüllten Berge.
Im Grund braucht es nicht viel, um sich im Langlaufglück wiederzufinden. Und weniger scheint häufig mehr zu sein. Vor allem ein Weniger an Infrastruktur. Dass dieses „Weniger“ in der Freizeit der Einen auch ein potenzielles Weniger im Alltag der Anderen bedeutet, ist letztlich nicht ohne Folgen: da sind Häuser im Tal, die leerstehen, Hotels, die nur saisonal geöffnet sind oder ganz und gar neue Betreiber suchen. Parallel Pläne, das einzige Skigebiet im Tal – überschaubar und bodenständig daherkommend – auszubauen und im gleichen Zug ein für Einige überdimensioniert erscheinendes, klarkantiges Hotel samt Talgondel in die gewachsene Kulturlandschaft zu projektieren. Was ist ein solches „Mehr“ später wem wert? Und wie lange? Was wird gleichzeitig dafür aufgegeben?
Wir haben das Ende und damit den höchsten Punkt der ausgeschilderten Loipe erreicht. Würden wir womöglich auf Schneeschuhe wechseln und weiter bergan laufen, erreichten wir alsbald den Schweizerischen Nationalpark, das älteste alpine Naturreservat Europas. – Ein anderes Mal! Stattdessen wenden wir, genießen den Blick in diese stille Welt und auch die Vorfreude auf das Surren der Ski, das gleich einsetzen wird.
Tipps
Hinkommen: Der historisch einfachste Zugang ins Val Müstair ist der von Südtiroler Seite über Taufers im Münstertal. Der Weg durch den Schweizer Nationalpark und über den Ofenpass ist ganzjährig befahrbar, der in die Lombardei über den Umbrailpass nur im Sommer.
Dörfer und Unterkunft: Etwa 1.500 Menschen leben in den sechs Dörfern des Tals; Hotels und andere Unterkünfte finden sich vor allem in Müstair und Santa Maria, den beiden größten Talgemeinden.
Verständigen: Im Val Müstair wird Jauer gesprochen, eine lokale romanische Mundart. Zur Begrüßung tönt einem daher meist ein „Allegra“ entgegen, was so viel heißt wie „Freue dich“.
Langlaufen: Insgesamt bis zu knapp 30 Kilometer Loipen werden im Winter präpariert. Die „La Vallada“ im Tal ist mit 9 km besonders weitläufig um vielseitig und lässt sich mit anderen Loipen im Tal kombinieren. Bei Sonnenschein sind die Höhenloipen „La sulagliva“ in Lü und vor allem „La muntagnarda“ – erreichbar über das Skigebiet Minschuns – ein Traum. Der notwendige Loipenpass kann u.a. im Langlaufzentrum Furom gekauft werden, auch Leihski gibt‘s dort.
Einkaufen (oder nur gucken): Die Weberei Tessanda in Santa Maria ist eine der wenigen übriggebliebenen großen Handwebereien der Schweiz. An teilweise mehr als einhundert Jahre alten Webstühlen fertigen die Weberinnen vor allem exquisite Artikel fürs Bad und für die Küche. Im Schauraum kann man dem schnellen Hin und Her der Webschiffchen folgen.
Besichtigen: Das Kloster St. Johann in Müstair ließ Karl der Große der Legende nach zum Dank erbauen, nachdem er am Umbrailpass erst in einen Schneesturm geriet und dann sicher wieder ins Tal fand. Die Kirche des Benedektinerinnenkloster gilt als besonderes Zeugnis spätmittelalterlicher Kunst und Kultur, vor allem die karolingischen und romanischen Fresken sind außergewöhnlich gut erhalten; das Kloster ist heute Weltkulturerbestätte der Unesco. Bei einem Besuch bzw. einer ausführlichen Klosterführung im Winter warm anziehen, es ist kalt in den alten Gemäuern, insbesondere im Plantaturm, dem ältesten Wohn- und Wehrturm im Alpenraum. Sehr angenehm: aufwärmen kann man sich wieder bei einem Kräutertee, der zum Ende der Führung gereicht wird.
Weitere Eindrücke aus dem Val Müstair bei Chris auf Loipenfetisch.
Transparenzhinweis: Die Recherchereise hat Tourismus Engadin Scuol Samnaun Val Müstair in Teilen unterstützt.
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