Oder: Less is more
… und dann liegt mir der Duft von frischgebackenem Brot in der Nase. Ein aromatischer, etwas feucht-schwerer und vor allem warm-betörender Duft. Soeben war ich vom Friedhof des Benediktinerstifts St. Peter gekommen, hatte das große Wasserrad ins Auge gefasst, über das von seinem Sockel herunter der Schutzpatron Johannes Nepomuk gegen alle Wassergefahren wacht.
Doch jetzt zieht es mich erst einmal eine Handvoll Stufen hinab in den alten Gewölbekeller der Stiftsbäckerei St. Peter. Dieser Raum ist Backstube und Verkaufslokal in einem. Auf einer großen Arbeitsfläche aus Holz widmet sich der Bäcker gerade einem Dutzend oder mehr Brioche-Teiglingen. Derweil lachen mich von schmalen Wandregalen fertig gebackene Sauerteiglaibe an; auf großen Blechen warten Gewürzweckerl, Vinschgerl und golden schimmernd Brioche-Teilchen darauf, in eine der braunen Papiertüten gepackt und über den kleinen Verkaufstresen gereicht zu werden.
Ich kann mich nicht entscheiden … und entscheide mich daher dafür, einfach alles zu probieren. Kurzerhand wandern mehrere gut gefüllte Tütchen in meine Tasche. Wieder vor der Tür, im Mühlenhof, schaue ich dann dem Wasserrade eine ganze Weile zu, wie es sich unermüdlich im Nass des kleinen Kanals dreht. Mit dem dadurch gewonnenen Strom mahlt die Bäckerei ihr Getreide selbst.
Schon seit mehr als 700 Jahren wird hier, im Zentrum der Salzburger Altstadt, Brot gebacken. Möglich wurde dies, nachdem in Salzburg bereits früh die Entscheidung fiel, den Almkanal zu bauen. Er ist genau genommen ein ganzes Netz von künstlich angelegten Gerinnen, woran wohl schon im 9. Jahrhundert die ersten Mühlen vor den Toren der Stadt betrieben wurden. Drei Jahrhunderte später war der Wasserbedarf auch in der Stadt selbst deutlich gestiegen. Felder und Gärten wollten bewässert werden, das Bürgerspital benötigte Wasser, gleichermaßen wie vielen kleinen Gewerbe: Mühlen und Schleifereien ebenso wie Schmieden, Sägen und viele andere mehr. So grub man sich 400 Meter durch den Berg und legte einen ersten Wasserleitungsstollen an, außerdem verlängerte man den Hauptwasserarm und nun schwappte das Bergwasser südlich der Stadt direkt aus der Königsache in den Almkanal.
Tags zuvor waren wir am Almkanal geradelt. Entlang der Kanalufer und schon zuvor hatte uns das entspannte Treiben der Einheimischen immer wieder anhalten und beobachten lassen.
Mit Salzburg ist’s für meine Begriffe so: Selbst, wenn man meint, die Stadt nach mehreren Besuchen schon einigermaßen zu kennen, entdeckt man für sich immer wieder Neues. In den innerstädtischen Gassen kann man sich leicht verlieren. Dass ich mir vor drei Jahrzehnten die Stadt irgendwie „falsch herum“ eingeprägt hatte, macht das Ganze nicht unbedingt einfacher. Schon mehrere Besuche lang versuche ich nunmehr, diese, meine innere Landkarte der Stadt zurechtzurücken und einzunorden. Da ist ganz zentral die Getreidegasse – gewissermaßen das Epizentrum des Salzburger Tourismus. Auch bei mir liegt es inzwischen nicht nur auf der linken, sondern auch auf der westlichen Flussseite. Ebenfalls in der Altstadt, aber auf der rechten Seite der Salzach dann die Linzer Gasse. Sie wirkt auf mich nach wie vor einen Ticken abseits der ganz großen Touristenströme und mehr den Einheimischen zu gehören.
Um die Stadt herum muten die Berge an wie ein natürlicher Schutzwall, der um die Stadt gelegt ist. Allen voran Festungsberg und Mönchsberg auf der einen, Kapuzinerberg auf der anderen Seite des Flusses. Dazwischen scheint einem die Stadthistorie an jeder Ecke zuzurufen. Wolfgang Amadeus Mozart kam hier zur Welt. Stefan Zweig zog hierher, erst für einige Sommermonate, um an seinen Büchern zu arbeiten; dann dauerhaft für eine ganze Reihe von arbeitsamen Jahren, bis dann jedoch viele Salzburger den „Anschluss“ an das nationalsozialistische Deutschland unterstützten und später auch seine Bücher auf dem Residenzplatz brannten.
Heute bilden die Gebäude rund um den Residenzplatz winters eine charmante Kulisse für den Salzburger Christkindlmarkt. Und im Sommer finden hier alljährlich einige der Eröffnungsfeierlichkeiten der Salzburger Festspiele statt.
Zwischen Kaffeehaus-Schwelgerei und Almkanal-Radeln
All diese pralle Geschichte und vielfältigen Geschichtchen lassen wir bei unserem neuerlichen Besuch der Stadt erst einmal geflissentlich beiseite. Wir haben die Räder im Gepäck und wollen uns ein paar Kilometer aus der Stadt heraustreiben lassen. Doch zunächst legen wir einen ersten Stopp im Café Bazar ein. Ein Blick in die Karte offenbart: gerade günstig ist das Kaffeehaus nicht, doch allein der Genuss, den es bereitet, den Weg zur Toilette zu suchen, lässt diesen Gedanken beiseiteschieben: Stufe um Stufe geht es dazu auf einer knarzenden Treppe nach oben, die Hand kann nach dem gusseisernen Geländer greifen, der Blick zum ausladenden Lüster gleiten.
Weil die Sonne bereits hochsommerlich wärmt, ist die Terrasse gut gefüllt. Nur einige Wenige bevorzugen, so wie wir, den angenehm kühlen Innenraum. Neben der Eingangstür hängen am obligaten Zeitungsständer allerlei Tageszeitungen und Magazine in toleranter Eintracht nebeneinander – vom Kurier am Sonntag bis zur Süddeutschen Zeitung, vom Playboy bis zum Kunstmagazin Art. Aus der Küche dringt das Klappern des Geschirrs und Bestecks, es bildet das Hintergrundrauschen für eine ausgiebige Lektüre wie für entspannte Gespräche. Kein Wunder, dass noch immer Literatinnen und Künstler Cafés ein solch angenehmes Ambiente nutzen, um Zeitungen nach Themen zu durchforsten und Informationen zu sammeln, um ihr Gedanken zu ordnen und nicht zuletzt auch: um in solchen Kaffeehäusern zu schreiben. Die Kellnerin zupft mich sanft aus meinen Gedanken. – Was darf’s denn sein? Ich überlege. Ein Verlängerter oder ein Einspänner? Eine Melange oder ein Großer Brauner?
Irgendwann eisen wir uns aus unserer Kaffeehaus-Schwelgerei los. Schließlich steht „Radeln“ auf dem Plan. Wir schieben die Räder über den Mozartsteig, fädeln uns am Rudolfskai entlang, durch die Gassen zum Kajetanerplatz mit seinen mittelalterlichen Bürgerhäusern und hinüber zum hochmodernen Unipark Nonntal, wo wir – gefühlt direkt am Innenstadtrand – in viel Grün eintauchen. Am Wasserschloss Freisaal vorbei und am Botanischen Garten der Universität, zieht bald eine große Toreinfahrt unser Interesse auf sich. Wir folgen unserer Neugier, finden uns am Gwandhaus mit einem bezaubernden Park wieder. Das ehemalige Pförtnerhäuschen des prächtigen Anwesens, heute Sitz eines Trachtenherstellers, ist in ein Café verwandelt. Auf der großen Rasenfläche verstreut haben es sich Ausflügler und Ausflüglerinnen in Liegestühlen bequem gemacht und wie extra reserviert finden auch wir ein ideales Plätzchen im Halbschatten. Wir sitzen. Und sitzen. Und sitzen. Wir schauen nach Süden über die weiten Wiesen und zu den Bergen. Die Outdoor-App hilft mir zu verstehen, auf welche noch schneebedeckten Gipfel wir dabei blicken. Der höchste von ihnen, den ich so ausmache, ist der Hohe Göll am Ostrand der Berchtesgadener Alpen. Immer wieder mal radelt jemand auf einem Wiesenweg durch die Szenerie. Von rechts hinter der Hecke hervorkommend, nach links hinter die Bäume entschwindend. Oder andersrum. Nach gut einer Stunde erinnern wir uns einmal mehr, dass auch wir heute noch ein wenig radeln wollten, also geht es auf kurzem und schnurgeraden Weg nach Hellbrunn.
Große Teile des weitläufigen Landschaftsparks am Schloss und des Wasserparterre – ein aufwändig gestalteter Ziergarten – sind frei zugänglich und so treffen wir hier auf Schritt und Tritt auf viele Einheimische, die einfach ihre Stadt genießen. Was genau lässt das Miteinander in der Stadt eigentlich so gelassen wirken? Ist es schlicht der Einfluss der eigenen entspannten Wochenend-Radelei? Oder hat die Stadt doch ein Geheiminis, das es noch zu lüften gilt?
Legendär ist, was man draus macht
Wir radeln in einem Schlenker zum Almkanal und folgen ihm bis zurück an den Stadtrand. Unterwegs schauen wir Jugendlichen und Junggebliebenen dabei zu, wie sie mit ihren Boards auf einer Surfwelle tanzen. Etwas weiter, zwischen Kopfweiden entlang des Kanals, haben einzelne Pärchen ihre Decken ausgebreitet. Dann wieder bevölkern Sonnenhungrige offene Uferabschnitte. Das harte Licht der Mittagsstunden ist längst gewichen, es hat dem weichen Licht des Spätnachmittags die Regie überlassen; die Regie über das Schlusskapitel einer für uns schon jetzt legendären Radtour.
Denn diese nicht mal zwanzig Kilometer haben mir einmal mehr gezeigt: Die Qualität, das Legendäre, einer Tour liegt nicht zwingend etwa in ihrer gewaltigen Länge oder einer anderen Großartigkeit. Vielmehr darin, was entlang des Wegs passiert. Oder eben manchmal auch in dem, was gerade nicht passiert. Das Legendäre ist oftmals die kleine Geschichte am Rand, die für die Welt ziemlich unbedeutend daherkommen mag, während sie für einen selbst noch über Jahre ihre Spuren in der Erinnerung hinterlässt.
Dieser Text ist ursprünglich für den Lonely Planet-Bildband „Legendäre Radtouren in Österreich: 30 fantastische Routen von Genussradeln bis Mountainbiking“ geschrieben, der im Oktober 2024 erschien.