Barcelona, sein Weltkulturerbe & seine Gäste
Nein, er heißt natürlich nicht Gaudí-Gipfel. Sondern Turó de les Tres Creus. Er ist ein Kalvarienberg. Und definitiv – zumindest was die Höhenlage betrifft – der absolute Gaudí-Gipfel in Barcelona. Denn er ist der höchste Punkt im Park Güell. Auch, wenn eines Tages die Türme der Sagrada Família fertiggestellt sein werden – hier hinauf werden sie nicht reichen.
Touristen erleben auf dem Kalvarienberg am Turó de les Tres Creus tatsächlich so was wie ein bisschen Gipfel-Gaudi: Aufgestiegen wird am besten vom Eingang Passatje de St. Josep de la Muntanya. Oder vom Haupteingang in der Calle d’Olot. Vom Meer her schwingt sich Barcelona gleichmäßig auf. Hin zu seinen Hügeln im Nordwesten der Stadt. Wie an manch alpinerem Berg gibt’s auf dem Weg zum Turó de les Tres Creus sogar eine Aufstiegshilfe: Namentlich mehrere Rolltreppen.
Auch sonst unterscheidet sich der Turó de les Tres Creus gar nicht so sehr von beliebten Ausfluggipfeln in den Alpen. – Zu einem Tag am Berg sollte man nur gestärkt aufbrechen: Vor einer Bar am oberen Ende der Rolltreppe steht ein Schild mit dem Hinweis, dass dies die letzte Möglichkeit vor dem Parkeingang sei, etwas zu essen und zu trinken. Ist der Park erreicht, bieten sodann die Einen überteuertes Mineralwasser in blauen Plastikflaschen an. Gleich daneben die Anderen, die auf schmalen Wegen große Tücher ausbreiten, um alles (Un-)Mögliche an Mann und Frau zu bringen. Bis sie – meist aufgescheucht durch einen warnenden Ruf – alles mit wenigen Handgriffen als kleines Bündel zusammenrollen und so Diskussionen mit den Offiziellen vermeiden.
Der Turó de les Tres Creus verhält sich zu seinem Kalvarienberg etwa so wie die Zugspitze zu ihrem Kreuz-Gipfel: Eigentlich hat man großräumig vom gesamten Gipfel einen ähnlich guten Blick hinunter in die Ebene, aber so „wirklich richtig“ oben drauf gewesen fühlt sich der Mensch eben erst, wenn’s gar nicht mehr weiter geht. Weshalb – wieder: ähnlich wie auf der Zugspitze – gerade auf den letzten Metern der Andrang enorm ist und mitunter ein paar Minuten gewartet werden muss. Irgendwie organisieren sich die Massen selbst – rechts geht es hinauf, ein Selfie oder Gruppenfoto, ein paar Blicke über die Stadt, links geht es wieder hinunter. Einige wenige sind schlauer als der Rest, steigen von links auf; bringen damit die sich selbst geordnete Ordnung wieder durcheinander. Und einige Besucher sichtlich zum Schäumen. Egal wo auf der Welt: Menschen reagieren mitunter gereizt auf die Masse.
Wieder die Steinstufen hinuntergestiegen, entspannen sich alle wieder. Robert – mit grauem Bart, Schirmmütze & dunkler Sonnenbrille – sitzt mit seiner Gitarre im Schatten des Kalvarienbergs und spielt „Ring of Fire“, eine Vierjährige im Blumenkleidchen wippt dazu im Takt. Die Touristen schlendern weiter. Hinab zu den noch viel bekannteren Attraktionen des Park Güell. Den Gemeinschaftsbereichen des Parks: Der wellenförmigen Bank, der Drachenechse, der Markthalle – alles mit den bekannten, bunten Trencadis-Mosaiken verziert.
Zurück zur Natur
Park Güell – in Anlehnung an englische Vorbilder seit jeher mit „k“ geschrieben – ist eine außergewöhnlich utopische Anlage: Mitte des 19. Jahrhunderts begann Barcelona stark zu wachsen, der Stadtteil Eixample mit seinen quadratischen Häuserblocks und deren abgerundeten Ecken – häufig mit Cafés und Läden – entstand auf dem Reißbrett. Bis heute ist Eixample einer der am dichtesten bevölkerten Flecken Europas. Dazwischen: Viel Verkehr. Die einen Autos rollen in der einen Straße hinunter Richtung Meer; die anderen brummen eine Straße weiter wieder bergauf. In den letzten Jahren nutzen Touristen und Einheimische mehr und mehr rot-weiße Leihfahrräder. Für die gibt es meist nur eine Richtung: gen Wasser. Hinauf zu den unzähligen Fahrradstationen werden sie oft wieder auf einem Anhänger gefahren.
Der Park war ein Gegenentwurf zum Trubel und zur Enge: Nach dem Willen des Autraggebers Eusebi Güell i Bacigalupi, einem einflussreichen Industriellen und Mäzen der Stadt, sollte eine Wohnsiedlung mit 60 Häusern und verschiedenen öffentlichen Plätzen entstehen. Gaudí entwarf einen Komplex, in dem Natur und urbanes Leben in Einklang stehen sollten. 1900 begonnen, scheiterte das Projekt schon wenige Jahre später; letztlich vor allem wegen der schlechten wirtschaftlichen Gesamtlage und des enormen Idealismus des Auftraggebers. 1922 wurde das Areal in einen Park umgewandelt und besteht – seit 1984 unter dem Weltkulturerbe-Schutz der UNESCO – bis heute so.
„Dues Maries“ und ihre Stadt
Überhaupt: Gaudí. Überhaupt: Das Weltkulturerbe. Überhaupt: Barcelona. Das gehört für die meisten Besucher einfach zusammen. Seit Jahren nimmt der Städtetourismus in Europa zu. Auch in der katalanischen Hauptstadt. Verändert nachhaltig das ganz normale Leben seiner Bewohner. Im Gaudi gelats, einem der Straßencafé in der Avinguda de Gaudi oberhalb der Sagrada Família, kommen wir, ein deutsch-spanisches Paar, mit Dues Maries ins Gespräch. – Zwei typische Bewohnerinnen von Barcelona. Ältere Damen, Freundinnen. Etwas Zurückhaltendes, aber gleichzeitig Stolzes geht von den beiden etwa 80-Jährigen aus. Sie sind nicht teuer, aber überaus exakt gekleidet, haben ein Tuch über die Schulter gelegt. Dezenter Schmuck, dezentes Make-Up. Das rollende katalanische „R“ auf der Zunge:
Gerade an den Wochenenden sei es anders geworden, erzählen die sie uns unaufgeregt und nachdenklich. Überall sei es voll, sie fänden kaum noch einen Platz in ihren Lieblingscafés. Die Familie der einen hat einen Stand auf dem Mercat de La Boqueria, dem großen zentralen Markt weiter unten, an der Les Rambles. Echte Stammkundschaft hätten sie kaum noch. Die Besucher aus aller Welt schauen, kauften höchstens eine Kleinigkeit, weil’s dazu gehöre. Wir sollten sie bloß nicht falsch verstehen: Die Touristen seien gut und wichtig für die Stadt. Aber eben diese Massen …
Seit gut 20 Jahren kommen sie nun, jedes Jahr werden es mehr. 1992, das Jahr der Olympischen Spiele in Barcelona, machen die meisten als den Wendepunkt aus, von dem aus es für den Tourismus nur noch eine Richtung gab: Nach oben. Heute erbringt die Tourismusindustrie bis zu 15 Prozent des städtischen Wirtschaftsvolumens. Die Stadt registrierte zuletzt 7,5 Millionen Touristen mit knapp 16,5 Millionen Übernachtungen pro Jahr. Bei 1,6 Millionen Einwohnern. Hinzu kommen nicht erfasste Nächtigungen, Tagesbesucher … Nachtein, nachtaus legen sich in Barcelona damit durchschnittlich mindestens 45.000 Besucher zum Schlafen. Das entspricht einer mittelgroßen Stadt. Manch einem erscheint’s, als stünde die katalanische Hauptstadt kurz vor ihrem touristischen Kollaps.
Mit einem freundlichen Adéu verabschieden sich die beiden Damen später von uns. Ein Lächeln auf den Lippen, geben sie uns auf den Weg: „Und noch eins: Auch wenn’s voll ist, kommt wieder zurück …!“