Auf der Sierra de Mariola
Die kleinen Schlaglöcher in der Straße, in denen sich der Niederschlag gesammelt hat, sind mit Eis überzogen. Ein kalter Wind weht um die Ecke, entlang der alten Mauer, die sich um den alten Ortskern von Bocairent zieht. Trotz südlicher Wintersonne fühlt sich an diesem Januarvormittag die dicke Wollmütze genau richtig an. Zumal wir vor einem Eiskeller stehen. nevera, wie er hier im valencianischen Hinterland heißt.
Bevor die Zeit reif für den uns heute bekannten Kühlschrank war, nutzen die Menschen solche Eiskeller oder Schneebrunnen, um im Winter Schnee zu sammeln und aufzubewahren. Wenn es dann mit dem Frühling wieder wärmer wurde, verkauften Händler die kostbare Kälte. Solche Keller und Brunnen gab es vielerorts in der Region. Gebaut, wo die letzten Ausläufer der Berge weit ans Meer heranreichten; genutzt in den naheliegenden Städten zwischen Valencia und Alicante. Denn die Kälte des Schnees war für alles mögliche interessant. Für das Kühlen von Lebensmitteln genauso wie für therapeutische Zwecke.
Abhängig vom Standort haben die Schneekeller ganz unterschiedlich ausgesehen. Das kreisrunde Schneelager in Bocairent ist knapp acht Meter im Durchmesser etwa elf Meter tief. Über eine Tür konnte der Schnee von oben in den Keller geschaufelt werden. „Der Schnee wurde dann Schicht für Schicht festgetreten, so dass Eis entstand“, erklärt Virgilio Beltrán das Konstrukt.
Virgilio ist Biologe und passionierter Ornithologe. Mit ihm wollen wir die Sierra de Mariola erkunden – ein kleines Bergmassiv, etwa 40 Kilometer von der Mittelmeerküste entfernt. Seit 2002 ist die Hochebene als Naturpark ausgewiesen, vor allem wegen der vielfältigen Kräuter und schutzbedürftigen Bäumen; so wächst eine besondere Eibenart im Park.
Gleich hinter Bocairent geht es zur Sierra de Mariola, eine Hauptstraße schlängelt sich die Berge hinauf. Kaum mehr als ein Sträßchen, denn richtig viele Menschen wohnen hier nicht. Wir überholen in einem ausgiebigen Bogen einen Rennradfahrer. Er wirkt mühelos in seinem Tun. Gut möglich, dass dies hier seine Trainingsstrecke ist und er jeden Meter bestens kennt. Leer genug ist’s jedenfalls, um das Radeln hier in vollen Zügen auszukosten.
Vögel beobachten
Wir halten hier und dort. Um Fotos zu machen und um nach Vögeln Ausschau zu halten. Dann wieder biegen wir auf einen kleinen Rastplatz unterhalb des Berges Alt de Mariola. Denn mit dem Spätvormittag wird es allmählich auch warm genug, um erst mal einen Tee, Kaffee und frischen Kuchen in der Sonne zu genießen. Immer wieder zücken wir unsere Ferngläser, um Bäume und Sträucher heranzuzoomen und um zu schauen, wer da zwitschert. Auf Anhieb und ohne Hilfe machen wir erst einmal vor allem Meisen aus. Später macht uns Virgilio auf eine Blaumerle aufmerksam. – Ein Name, so wunderschön wie sein Träger; das Blaumerlen-Männchen erinnert an eine Amsel, die in einen Topf voller blauem Puder gefallen ist.
Es war von Anfang an klar, dass dieser Sierra de Mariola-Tag kaum mehr als ein Appetitmacher sein konnte. Doch als wir später nur ein Stückchen in den Barranc del Sinc hineingehen, würde ich am liebsten immer weiter laufen: In der engen Schlucht sind Gänsegeier heimisch. Die einen sitzen ganz oben auf den steilen Felswänden, während andere in der Mittagsthermik kreisen. Ich könnte sie ewig beobachten. Oder eben einfach noch ein Stück gehen. Etwa drei Stunden bräuchte man von hier bis zum Montcabrer, den mit gut 1300 Metern höchsten Gipfel der Sierra de Mariola. Zum Glück habe ich keine wirklich bergtauglichen Schuhe an. So ist es weniger schwer, nach ein paar Kurven zwischen den Felsen wieder umzukehren.
Wein verkosten
Ein paar Kilometer weiter sind wir mit Juan Cascant verabredet. Um ihn zu treffen, schlängeln wir uns durch die engen Gassen von Muro de Alcoy, holpern über einen Feldweg und kommen an einem kleinen Weinberg zu stehen. Juan ist im Dorf aufgewachsen. Das kleine, dreieckige Stück Land hat er geerbt.
Mein Blick gleitet über die Weinstöcke. Gleich dahinter ein alter, ebenso kleiner Olivenhain. Weiter unten mäandert träge der Riu d’Alcoi durch die Landschaft, bevor er zum Embalse de Beniarrés aufgestaut wird. Unter einem Mandelbaum steht ein altes Weinfass. Die ersten Mandelblüten haben sich aus den Knospen geschoben. „Vor zwei Tagen war hier alles von Raureif überzogen, jeder Grashalm, jeder Baum“, erzählt Juan. Kaum vorstellbar – jetzt, in der blendenden und angenehm warmen Nachmittagssonne.
Wir funktionieren das sonnengegerbte Holzfass kurzerhand zum Tisch um. Rotwein und vier Gläser finden darauf Platz, Weißbrot vom Bäcker. Tomaten, Tortilla, Empanadas und Käse. Die Wurst trägt klangvolle katalanische Namen: da wäre die mit viel scharfem Paprika abgewürzte und luftgetrocknete sobrasada und die lange im Schweinemagen gereifte Blutwurst bisbe.
Bei einem Glas Wein erzählt uns Juan über seinen Weinberg, den er selbst als minifundie bezeichnet. Ein kleines Stück Land, das in erster Linie der Eigenversorgung dient. Oft liegen solche Parzellen heute brach, weil die Eigentümer nicht mehr den Aufwand betreiben wollen, sie zu bewirtschaften und etwas zu erzeugen, das sie im Laden eh bekommen. Günstig noch dazu.
Juan will einen alternativen Weg gehen. Daher gründete er vor einiger Zeit das Projekt Microvinya. Auf seinem eigenen Mikro-Weinberg ist es ihm gelungen, ohne großes Schischi einen sehr angenehm zu trinkenden Rotwein zu erzeugen, in Kleinstmengen. Andere Weinbauern in der Gegend folgten der Idee. „Wir produzieren nicht vornehmlich um zu verkaufen, sondern um Mehrwert zu schaffen“, erklärt er den Ansatz.
Ist dieser Mehrwert vielleicht sogar beim Blick über die Landschaft zu spüren? Statt allmählich zu verwildern, präsentieren sich wie eh und je die kultivierten Felder. „Dass wir die Flächen kleinteilig offenhalten, kommt letztlich auch der Biodiversität zugute“, erklärt Juan weiter. Was die Mikro-Weinbauern versuchen, ist auf Nachhaltigkeit ausgerichtet: wirtschaftlich und sozial, kulturell und mit Blick auf die Umwelt soll ihr Tun einen Sinn ergeben.
Selbst dieser Moment gemeinsam am Weinberg scheint sich in diese Logik einzufügen: gemeinsam Ewigkeiten um ein altes Weinfass stehend, über die Geschichte und Geschichten sinnierend. Über Werte und über Gemeinwohlökonomie diskutierend. Bis die allmählich kühler werdende Luft andeutet, dass die Sonne ganz bald hinter den Gipfeln der Sierra de Mariola untergehen wird.
Die einfachen Dinge im Leben sind oft die schönsten.
Tipps:
Hin und weg: Die Sierra de Mariola ist etwa 40 km von Alicante und 80 km von Valencia entfernt. Mit dem Zug recht zeitaufwändig von Valencia über Xativa nach Alcoy. Vom Bahnhof sind es etwa zwei Kilometer bis zum Eingang zur Schlucht Barranc del Sint. Alternativ An- und Rundreise mit dem Auto.
Geführt: Als Tages- oder Zweitages-Exkursion lässt sich mit Valenicanischen Anbieter Actio Birding die Sierra de Mariola erkunden.
Wandern: Herbst und Frühling sind die besten Jahreszeiten für Wanderungen auf der Sierra de Mariola. Der höchste Berg ist der Montcabrer mit gut 1.300 Metern. Im Winter kann es morgens in der Gegend empfindlich kalt sein, mitunter liegt auch etwas Schnee. Im Sommer steigen die Temperaturen schnell – viel Wasser mitnehmen.
Transparenzhinweis: Actio Birding hat mich zum Birds & Wines-Ausflug auf die Sierra de Mariola eingeladen.