… einsam auf dem Berg
Journalism is printing what someone else does not want printed. Everything else is public relations. Meinte George Orwell. Dass dieser Journalismus mitunter gehässig sein kann, erfuhr Thor Kunkel vor zehn Jahren. Er sagt: „Um ehrlich zu sein, habe ich mich nie so elend gefühlt wie im Frühjahr 2004, als sich Teile der staatstragenden Presse mit polemischen Kritiken gegen mich wandten.“ Solche Verletzungen heilen nur langsam. Und münden immer wieder mal in der Abkehr von allem.
Während ein Teil der Republik Kunkels Roman „Endstufe“ damals höchst kontrovers diskutierte, nimmt ein anderer Teil den Autor vielleicht erst jetzt wahr. Mit seinem Buch „Wanderful. Mein neues Leben in den Bergen“. Angekündigt als ein Buch mit Stoff für alle, „die schon einmal mit dem Gedanken gespielt haben, ein neues Leben zu beginnen.“ Das klingt interessant:
Der Großstadt den Rücken kehren. Auf eine autofreie Alp in der Schweiz ziehen. Wo man sich beim Auf-dem-Balkon-Sitzen zwischen Superlativen wiederfindet: das Matterhorn etwas schräg rechts vor der Nase, den Aletschgletscher im Rücken. Das alles hat seinen Preis.
Worum geht’s? – Das Buch startet durch mit einer Beschreibung des Berliner Kulturbetriebs. Dieses erste Kapitel erinnert in seiner sprachlichen Unverblümtheit schnell an Neununddreissigneunzig von Beigbeder. Danach entschleunigt sich das Buch gewissermaßen.
Die Zelte in Berlin werden also abgerissen. Das neue Domizil wird in der Schweiz gebaut, fernab des tristen Hauptstadttreibens. Wer nun eventuell die Geschichte erwartet von einem, der seinen alten Beruf an den Nagel hängt und eine Hütte betreibt, sich dem bäuerlichen Leben hingibt oder plötzlich einem Handwerk nachgeht, der wird enttäuscht. Denn „das neue Leben“, das beschrieben wird, ist gewissermaßen nichts weiter als ein Umzug. Weg aus dem hässlichen Berlin, hin ins schöne Wallis. Als Autor, Filmemacher oder anderweitig Kreativer kann man schließlich auch gut mit W-LAN auf einer gar nicht so extrem einsamen Alp wie der Riederalp arbeiten. Statt vor Bergen von zivilisatorischem (Gedanken-)Müll steht man hier eben höchstens vor Bergen von Schnee.
Beim Lesen des Buches wird klar: Gerade, wer in der Öffentlichkeit steht, kann sich glücklich schätzen, wenn er einen Partner an der Seite hat, der die eigenen Werte teilt. Der in stürmischen Zeiten wie ein Fels in der Brandung steht. Und froh kann sein, wer das Gefühl hat, durch die Veränderung in seinem Leben näher zu sich selbst gefunden zu haben. Denn das ist schließlich wichtig. Das zählt.
Da macht es auch nichts, wenn der Leser etwas ratlos das Buch zuklappt. Sei es, weil es ermüdend ist zu erfahren, dass früher alles besser war (die Bergführerliteratur wertiger aufbereitet, die Weisen weiser, die Bergmaler die besseren Künstler). Oder dass nur die Berggänger „der alten Schule“ so richtig bergsteigen; Mountainbiker, Gleitschirmflieger & Co nur nerven. Und dass alles Gesellschaftliche, Politische und Kulturelle in Deutschland eh zum In-die-Tonne-Kloppen ist.
Ein Gutes hat’s. Denn einige grundsätzliche, mitunter unbequeme Fragen tun sich dem Leser auf und können auf einer langen Wanderung ausgiebig von allen Seiten beleuchtet werden: Wächst oder schrumpft der Aletschgletscher eigentlich gerade? Wie schlecht steht’s um Deutschland und Europa wirklich? Wann ist ein neues Leben tatsächlich „neu“? Gehört zu einem neuen Leben, alles auf den Kopf zu stellen? Und: Wo endet das Unbehagen in der Kultur, wo beginnt die zynische Weltflucht? Führt letztere nicht früher oder später zur totalen Isolation, beruflich wie privat? Zum Schluss scheint’s mit dem neuen Leben wie mit der neuen Liebe: Wer gedanklich immer wieder zum alten zurückkehrt, hat vielleicht noch nicht abgeschlossen damit.
Das Buch „Wanderful. Mein neues Leben in den Bergen“ ist im Eichborn Verlag erschienen. Umfang 239 Seiten, Hardcover mit Schutzumschlag. In jedem Buchladen oder beim Verlag für 19,99 Euro (D) zu bestellen.
Das Buch “Wanderful. Mein neues Leben in den Bergen“ hat mir der Eichborn Verlag als Rezensionsexemplar zur Verfügung gestellt.